Zwei Expertinnen aus Franken wissen, wie man mit Termin- und Leistungsdruck fertig wird.
V on Rücken-, Schulter- und Kopfschmerzen bis hin zum Burn-out: Die Krankenkassen verzeichnen immer mehr Arbeitnehmerausfälle durch Stress. Burn-out ist mittlerweile die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen in Bayern. Sogar Schulkinder zeigen schon Stress-Symptome. Da scheint es angebracht, sich mit Stress-Prävention, also Vorbeugung, zu befassen. Ulrike Hellert (Scheinfeld) und Brigitte Milkau (Bamberg) haben das getan und die "Gesellschaft für Gesundes Arbeiten" gegründet.
Jeder hat sich schon mal gestresst gefühlt. Was passiert da eigentlich genau?
Brigitte Milkau: Stress ist das Ungleichgewicht zwischen dem Ist- und dem Soll-Zustand. Sprich: zwischen dem, was man leistet und leisten kann, und dem, was von einem erwartet wird - oder vermeintlich erwartet wird.
"Gesellschaft für Gesundes Arbeiten", GGA, das klingt gut. Geht es gleichermaßen ums körperliche und seelische Wohl?
Ulrike Hellert: Ja. Ich glaube, das kann man gar nicht trennen. Der Körper hat Einfluss auf die Seele. Und umgekehrt.
Mit Stress und humanen Arbeitsbedingungen befassen Sie beide sich seit langem - bisher unabhängig voneinander in verschiedenen Regionen Frankens und Bayerns. Wie kam es zur Zusammenarbeit?Milkau: Ich habe Ulrike Hellert in einem Video gesehen und festgestellt, dass es in unserer Arbeit zahlreiche Berührungspunkte gibt. Deshalb habe ich sie angerufen, wir haben uns getroffen und gesehen, dass uns Sendungsbewusstsein und Leidenschaft für Stressmanagement verbinden. Und da es kaum wissenschaftlich qualifizierte Menschen gibt, die anderen beibringen, wie sie mit den vielfältigen Anforderungen der modernen Arbeitswelt fertig werden, haben wir zum 1. März 2017 die GGA gegründet.
Hellert: Wir hatten beide viel Erfahrung in diesem Bereich, wollten aber auch die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse abbilden. Es hat uns Freude gemacht, das wissenschaftlich fundierte Präventionskonzept "Stressbewältigungskompetenz" zu erstellen. Es ist mittlerweile vom Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung zertifiziert und von der Zentralen Prüfstelle Prävention als förderungswürdig eingestuft worden.
Sie bilden andere Menschen in Sachen Stressmanagement aus. Für wen sind Ihre Kurse geeignet?
Milkau: Vorwiegend sind unsere "Train the Trainer"-Fortbildungen für Menschen gedacht, die sich in Betrieben für die Gesundheit der Mitarbeiter einsetzen. Es können auch Fachkräfte aus dem Bereich der psychosozialen Gesundheit, Ärzte, Psycho- und Physiotherapeuten oder Sportmediziner teilnehmen. In unserem fünftägigen Seminar erwerben sie fachliche, didaktisch-methodische und soziale Kompetenzen für eine selbstständige Tätigkeit als Kursleiter und Berater.
Wo finden diese Seminare statt?Hellert: In Iphofen - das ist ein idyllischer Winzerort mit historischer Altstadt am Rand des Steigerwaldes, in der Nähe des Drei-Franken-Ecks. Hier lässt es sich sehr gut abschalten und zur Ruhe kommen. Die perfekte Atmosphäre, um sich mit gesundem Arbeiten zu beschäftigen.
Gibt es besonders stressige Berufe?Milkau: Im Grunde sind alle Berufsgruppen betroffen, weil die Arbeitswelt sich extrem schnell verändert. Besonders stressgefährdet sind Schichtarbeiter. Da sind Schlafmangel und gestörter Tag-/Nacht-Rhythmus gefährdende Faktoren. Auch in der IT-Branche ist die Belastung sehr hoch. Und schließlich sind alle betroffen, die "Emotionsarbeit" leisten. Da hängt die Gesundheit oft am seidenen Faden.
Dann sind es gar nicht die großen Bosse, die am meisten leiden oder am ehesten einen Burn-out bekommen?Milkau: Nein, am gefährdetsten sind tatsächlich Führungskräfte im mittleren Segment. Wer sich endlich bis ganz nach oben gearbeitet hat, kann aufgrund seiner Handlungs- und Entscheidungsspielräume ganz anders agieren. Die "Manager-Krankheit" trifft heute ganz normale Arbeitnehmer. Unabhängig von der Branche leben wir aber in einer Zeit, in der es überall Arbeitsverdichtung gibt und der Termindruck steigt. Und in der ungewollte Arbeitsunterbrechungen einem das Leben erschweren - denken Sie nur an das ständige "Pling" beim Eingang neuer Nachrichten. Dabei bräuchten wir unsere volle Konzentration eigentlich, denn die kognitiven Anforderungen - also wie wir Wissen und Informationen verarbeiten - steigen fast in allen Berufsfeldern.
Wie kommt man aus diesem Teufelskreis aus Anforderungen, Termindruck und ständiger Erreichbarkeit heraus?
Hellert: Wir empfehlen die 3-S-Methode: Stressanalyse, Stressbewertung, Stressbewältigung. Es gibt individuell anzupassende Strategien, wie man Belastungen reduziert oder verhindert. Für jeden anwendbar ist der Satz: "Ob ich mich aufrege oder nicht, entscheide ich selbst!" Manchmal hilft es, einen Schritt zurückzutreten und zu überlegen, ob man die umstrittene Tätigkeit nicht an andere delegieren oder verschieben kann. Oder einen Sachverhalt vielleicht akzeptieren kann, ohne dem Kampf- oder Fluchttrieb zu folgen - diese körpereigene Chemie ist noch immer in uns verankert. Es ist ein Automatismus, der uns wie in der Steinzeit zum Keulenschwingen bringt, statt zur nüchternen Analyse und Kopfarbeit, die eigentlich gefragt ist.
Manche Menschen brauchen aber doch auch ein bisschen Stress, oder? Sie empfinden mäßigen Stress als positiv.
Hellert: Es gibt keinen positiven Stress! Menschen, die mir von "positivem Stress" erzählt haben, hatten nur noch einen kurzen Weg bis zum Burn-out. Gerade solche Menschen müssen dringend lernen, auch mal nein zu sagen. Es gibt zwar Workaholics und Menschentypen, die von ihrer genetischen Anlage her weniger stressanfällig sind als andere. Aber auch sie müssen das Thema Selbstfürsorge ernst nehmen: sich selbst wahrnehmen lernen, achtsam sein und ein Gespür entwickeln, wann es eben doch zu viel wird.
Was können Arbeitgeber und Vorgesetzte dafür tun?
Milkau: Eine vorausschauende Planung der anstehenden Arbeit beugt Stress vor. In der Ruhe liegt die Kraft! Betriebe brauchen eine Kultur, die akzeptiert, wenn eine Abteilung signalisiert: Mehr geht wirklich nicht. So was sollten Arbeitgeber ernst nehmen und nicht ihr wichtigstes Gut, die Menschen, verschleifen. Entspannungszeiten sind zu garantieren und ungestörter Urlaub. In Zeiten digitaler Medien ist es mittlerweile gang und gäbe, auch im Urlaub "mal schnell" Mails abzurufen und zu beantworten. Das ist nicht gut. Jeder Mensch braucht mal eine Auszeit, in der er komplett abschalten kann. BMW kann hier als Vorbild dienen: Das Unternehmen hat eine Nichterreichbarkeits-Verfügung für die Mitarbeiter ausgearbeitet.
Nehmen wir ein Beispiel: Eine Krankenschwester muss immer wieder für Kollegen einspringen, in Schichten arbeiten, Überstunden machen. Wie kann sie sich davor schützen, Opfer des Systems zu werden?
Hellert: Ganz wichtig ist, dass sie auch für sich selbst gut sorgt - Stichworte Ernährung und Schlaf. Längerfristig ist es sinnvoll, sich mit Kollegen zusammenzutun, mit der Mitarbeiter-Vertretung zu sprechen und die Unternehmensführung zu informieren, dass da etwas im Argen liegt. Es gibt Krankenhäuser, die für ihre Belegschaft zum Beispiel Gesundheitstage anbieten. Wenn sich trotz Protestes gar nichts ändert, kann es auch sinnvoll sein, den Arbeitgeber zu wechseln.
INFO Prof. Dr. phil. Ulrike Hellert ist Wirtschaftswissenschaftlerin, Autorin und promovierte Arbeitspsychologin. Sie lehrt an der FOM-Hochschule Nürnberg und ist dort wissenschaftliche Direktorin des Instituts für Arbeit & Personal. Sie lebt in Scheinfeld (Mittelfranken).
Dipl.-Psychol. Brigitte Milkau ist Arbeits- & Organisationspsychologin, Business- & Resilienz-Coach. Mit ihrer Firma Milkau Arbeitsschutzmanagement berät sie seit über 20 Jahren Unternehmen bei Veränderungsprozessen und gibt Kurse für psychische Gesundheit am Arbeitsplatz. Sie lebt in Bamberg. www.gesellschaft-fuer-gesundes-arbeiten.de