Bahnhof Ebing: Geisterstunde an Gleis 1

5 Min
Frauenleiche am Ebinger Bahnhof entdeckt
Eine Frauenleiche wurde am Ebinger Bahnhof entdeckt.
Frauenleiche am Ebinger Bahnhof entdeckt
Matthias Hoch/Archiv
Foto: Matthias Hoch
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Falter-Tod und Signalton-Sinfonie: Was ist sonst noch los um Mitternacht an einem einsamen Bahnhaltepunkt? Wir haben nachgeschaut.

Auf Hagebutten und Holunder ist gepfiffen! Sind die überhaupt noch da? Hagebutten: nein. Holunder: So weit reicht der Schein des wackelkontaktigen Taschenlämpchens nicht. Marmeladenobst beobachtet man besser zur Mittagszeit, wenn am Ebinger Bahnhof absolut nichts los ist.

Kirschgroße, nein walnussgroße, ach was: apfelgroße Kreuzspinnen schmausen im Neonlampenlicht. Dazu tackert der Fahrscheinentwerter coole Beats. Der Automat stellt sich anscheinend auf den anbrechenden Tag ein - und hat verpennt. Denn es ist schon vier Minuten nach Mitternacht. Geisterstunde an Gleis 1.

Hier waren wir schon mal. An einem Septembermontagmittag vor zehn Jahren (siehe Bericht unten). Es gibt so viele öde Haltepunkte entlang der Bahnstrecken in Franken. Aber der in Ebing hat einen eigenen Zauber, den man auf sich wirken lassen sollte.
So lange es noch geht, denn wenn erstmal die ICE-Strecke ausgebaut ist, wird seine Umgebung völlig umgekrempelt sein.

Dass es dort nachts auf den Schienen beschaulich zugeht, kann man nicht behaupten. Güterzug um Güterzug braust heran. Die aus Richtung Bamberg kommen, "fächeln" den am Gleis 2 Stehenden einen zarten Hauch von Dung zu. Der Luftzug lässt die Maispflanzen im Feld nebenan schwanken - und die beiden Neugierigen, die gerade den Unterstand mit den vier Sitzen und dem Abfalleimer untersuchen. Uns dröhnen in der Wellblechhütte die Ohren. Das Häuschen stand vor zehn Jahren noch nicht da.

Geräusche von der Straße sind um diese Zeit Nebensache. Wenn nicht gerade die Schranken bimmeln, hört man das Rascheln und Wispern entlang der Bahnsteige. Fotograf Matthias Hoch bringt es auf den Punkt: "Ich will gar nicht so genau wissen, was sich da jetzt alles im Maisfeld rumtreibt..." Mindestens an mäusemordende Marder hatte ich auch schon gedacht.

Keiner will rein, keiner will raus

23.55 Uhr: die Regionalbahn nach Bamberg hält. Ein einziger Fahrgast sitzt drin und hält sich an seinem Rucksack fest. Niemand steigt ein, niemand steigt aus.

Wir gehen wieder auf die andere Seite. Da ist "mehr" zu sehen. Die Streugutkästen sind moderner geworden. Und es gibt jetzt einen Fahrkartenautomaten. Der Schaukasten bietet, im Vergleich zum letzten Besuch, neben dem Abfahrtsplan eine geradezu überbordende Informationsfülle.

Noch mehr Güterzüge rauschen durch. In einem Fall sind die Schranken nicht mal eine Minute oben, da müssen sie schon wieder runter. Und noch ein Personenzug kommt: die Regionalbahn nach Coburg. Deutlich besser besetzt. Die meisten Reisenden sind über ihre Laptops oder Notebooks gebeugt. Niemand steigt ein, niemand steigt aus. Abfahrt um 0.20 Uhr.

Netzwirrwarr vor der Lampe

"Liegt irgendwo ein Stöckchen rum? Soll ich die Partygesellschaft mal in Schwung bringen?", frage ich. Der Mann mit der Kamera schüttelt mit Blick auf das Netzwirrwarr energisch den Kopf. Bei vernünftiger Betrachtung sind die Kreuzspinnen nur kreuzspinnengroß. Aber sehr wohlgenährt. Sie sind, außer uns, die einzigen (sichtbaren) lebendigen Wesen am Bahnhof.

Netz hängt, Lampe leuchtet, Falter kommt, Spinne frisst. So ist das nun mal. Alles ganz ungruselig, zur Geisterstunde an Gleis 1. Marmeladenobst kann man auch mittags beobachten, wenn absolut nichts los ist, am Ebinger Bahnhof.


Gary Cooper trägt Neon-Orange: "High Noon" am Bahnhof in Ebing (die Geschichte von 2004)

"High Noon", sagt der Kollege. Jedes Mal, wenn die Rede auf den Ebinger Bahnhof kommt. Da ist was dran. Wollte man einen Western drehen, könnte man das verlassene Gebäude glatt als Kulisse verwenden. Ein Ort, an dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Was ist dort los um 12 Uhr, an einem Septembermontagmittag 2004?

Gary Cooper trägt Neon-Orange. Zugegeben, es ist zwei Minuten nach zwölf, als er den Bahnhof passiert. Aber er ist da. Sicherheitsjacke, Regenschirm, Aktenordner - heute nur mit leichter Bewaffnung. Ein spannenlanges Pferdeschwänzchen wippt unter der Baseballkappe, als er kurz aufschaut und grüßt. Rastlos unterwegs, Richtung Zapfendorf. Den Blick aufmerksam auf Schienen, Schwellen und Befestigungen geheftet. Ein Streckengeher bei der Arbeit.

An Gleis 1 ist der Holunder reif. Schwere Dolden hängen an den Sträuchern. Tiefschwarze Beeren, für die sich allenfalls die Amseln interessieren. Die Hagebutten an Gleis 2 brauchen noch ein paar sonnenwarme Tage und ein paar frostkalte Nächte. Aber wer denkt auf einem Bahnhof ans Marmeladekochen?

Hinter Hollerbüschen und alten Apfelbäumen fließt träge der Main. Ein Stück weiter blinkt die Wasserfläche des Baggersees durchs Gesträuch. Kontrastprogramm auf der anderen Seite der Gleise: In luftiger Höhe, auf Betonstelzen und vier Fahrbahnen, braust der Verkehr auf der B 173. Im Parterre geht‘s gemächlicher zu: Die Staatsstraße 2197 erlaubt keine hohen Geschwindigkeiten. Außerdem biegt man hier ab nach Ebing - und wird gelegentlich von der Schranke gestoppt.

Stoßdämpfer-Test

Tscheteck, tscheteck: Reifen rumpeln über den Bahnübergang. Asphalt, Stahlplatten, Schienenstränge. Ein sanfter Test für die Stoßdämpfer. Wer hier nicht fährt, steht. Gebremst vom Bimmeln und Blinken und von rot-weißen Balken. Der Bruchteil einer Sekunde fehlt zur vollkommenen Synchronität der akustischen Signale auf beiden Seiten der Absperrung.

Wann kommt denn nun endlich ein Zug in dieser Geschichte? Geduld; vor dem Einsteigen steht das Warten. Es kommen sogar 35 Züge zwischen 1.08 und 23.51 Uhr an den Ebinger Bahnhof.

Doch erst einmal rollt ein Fahrrad heran. Es gesellt sich nicht zu den anderen 13, die in den Ständern ruhen. Seine Besitzerin, eine Rattelsdorferin, traut dem Frieden nicht. Sie hat bereits zwei "Drahtesel" eingebüßt: Einer wurde gestohlen, der andere mutwillig zerstört.

Das Vehikel, das sie jetzt zur Arbeit nach Bamberg mitnimmt, ist ob seines Alters alles andere als attraktiv für potenzielle Langfinger. Aber die junge Frau hat noch ein anderes Problem, dem sie täglich gegenübersteht. "Das können Sie ruhig mal schreiben, dass die Bahnsteige hier unmöglich niedrig sind", schimpft sie. "Wenn man alleine ein Rad in den Zug heben muss, ist man wirklich verkauft. Auch ältere Personen haben beim Einsteigen große Schwierigkeiten".

Das lässt sich beinahe sofort überprüfen, denn die Regionalbahn 20469 nach Plattling, Abfahrt 11.50 Uhr, ist eingetroffen. Betagte Fahrgäste gehen jetzt nicht an Bord. Nur zwei Jugendliche wollen in Richtung Bamberg. Und die Rattelsdorferin, die ihr Fahrrad zu ersten Waggontür hinter der Lok schiebt. Die unterste Trittstufe befindet sich etwa in Kniehöhe.

Heute hat die Radlerin Glück. Der Schaffner packt mit an und hilft. Das ist aber nicht immer so. "Da kann man jedes Mal nur hoffen, dass der Zug aus den neuen Wagen besteht; die mit den breiten, tieferen Einstiegen", hatte sie vorher gesagt.

"Gefunden: Schlüsseletui"

Wann mag die letzte Ansage aus den Lautsprechern ertönt sein? Ein Zettel ist an die Wand des hölzernen Vorbaus geheftet: "Gefunden: Schlüsseletui mit Schlüsselband und 2 Schlüsseln. Abzuholen bei der Gemeinde Rattelsdorf". Ansonsten die üblichen Kontakt-Nachrichten, von jugendlicher Hand mit Filzstift auf alle geeigneten Flächen gekritzelt. Tür- und Fensteröffnungen des Hauses sind mit Brettern verschlossen.

"Für meinen Schatz. Marco, ich liebe Dich mehr als alles. Bye, Christine. Ich werde Dich immer lieben. Willst Du mich heiraten?", prangt in großen Lettern dort, wo einst die rückwärtige Eingangstür war. Der letzte Satz ist durchgestrichen. Der mit dem Heiraten. Ah, ja!!!

Die Regionalbahn nach Sonneberg wird bald da sein. Zum Gleis 2 gelangt man über den Straßen-Bahnübergang. Dort herrscht abschnittsweise die Illusion eines "echten" Perrons: geteert und mit einem weißen Trennstrich, der den sicheren und den gefährlichen Bereich kenntlich macht.

Das Streugut aus dem halb in den Hang versunkenen Kasten wird hier im Winter tatsächlich benötigt, während an Gleis 1 keine Gefahr droht, auf Glatteis auszurutschen: Die Bahnsteigoberfläche besteht zu 100 Prozent aus Sand und Splitt.

Niemand steigt ein, niemand steigt aus. Die Besatzung der RB 20462, die fahrplangemäß um 12.09 Uhr stoppt, nimmt es mit einem Achselzucken.

Und was war denn nun los, an "High Noon", um 12 Uhr mittags, am Ebinger Bahnhof? Nichts, buchstäblich nichts. Gary Cooper kam ja zwei Minuten zu spät.