Eine "verlorene Generation"

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Bei ihrer Arbeit in einem offenen Jugendtreff in Schweinfurt stieß Kornelia Schistka-Streck auf die Zeichensprache Krimineller aus der ehemaligen Sowjetunion. Fotos Ulrike Müller
Bei ihrer Arbeit in einem offenen Jugendtreff in Schweinfurt stieß Kornelia Schistka-Streck auf die Zeichensprache Krimineller aus der ehemaligen Sowjetunion. Fotos Ulrike Müller
Ob Ringe oder Tätowierungen: Verbrecher haben viele Zeichen.
Ob Ringe oder Tätowierungen: Verbrecher haben viele Zeichen.
 
 
 
 

In den 1990er Jahren kamen hunderte Russlanddeutsche in den Altlandkreis Bad Brückenau. Das Vorurteil, sie seien kriminell - oder zumindest krimineller als andere - hält sich hartnäckig. Aber ist da was dran?

Sie nennt ihre Schützlinge gern die "verlorene Generation". Kornelia Schistka-Streck aus Schweinfurt ist selbst keine Russlanddeutsche. Ihre Mutter ist Deutsch-Österreicherin, ihr Vater Ukrainer. 1962 wurde sie im Westen der Ukraine geboren, seit 1991 lebt sie in Deutschland. Hier arbeitet sie als Übersetzerin mit der Polizei zusammen, sitzt im Gericht neben den Angeklagten und wird vom Jugendamt direkt in die Familien geschickt, die es schwer haben in Deutschland.

Sie
kennt sie, die Straftäter, Drogen-Dealer, Russen eben. Aber kann man das wirklich so einfach sagen? Die Worte von Schistka-Streck klingen anders: "Die Kinder konnten sich verbal nicht wehren", sagt sie. "Also reagierten sie mit Gewalt." Und dann erzählt sie die Geschichte eines Sportschülers aus Wolgograd, der in Deutschland auf eine Förderschule für behinderte Kinder geschickt wurde. "Diese Geschichte endete mit der Nadel. Drogenabhängig."

Beispiele wie diese bringt sie in Zusammenhang mit den Menschen, die später auf der Anklagebank sitzen und für die sie übersetzt. "In vielen Fällen haben die Behörden versagt", lautet ihr Urteil. Und wie sollte es auch anders sein: Als in den 1990er Jahren so viele Aussiedler in die Bundesrepublik kamen, seien die staatlichen Stellen schlichtweg überfordert gewesen. Und die Kinder, vor allem die Kinder, seien in einen Strudel geraten. Ein Strudel, der aus Kindern kleine Gangster machte, die sich am dritten Tag in der Schule ein Klappmesser besorgen - wie ihr eigener Neffe - und später im Knast enden. Oder im Jugendtreff.

Ein Leben in Bildern

Von 1996 bis 2002 arbeitete Schistka-Streck im "Deutschhof" in Schweinfurt. Dort fielen ihr zum ersten Mal die unscheinbaren Zeichen auf, mit denen die Jugendlichen sich verständigten. Sie beobachtete Szenen, etwa wie sich eine Gruppe auflöst - just in dem Moment, in dem eine Streife um die Ecke biegt. "Da ist kein Wort gefallen." Von einem Bekannten im Justizministerium der Ukraine besorgt sie sich das Buch "Imperium der Angst". Dort liest sie nach, wie die Hierarchie Krimineller aus der ehemaligen Sowjetunion funktioniert. Das Buch "Tätowierungen der Gefangenen" bringt sie auf eine weitere Spur.

Schon oft war ihr aufgefallen, dass die Körper einiger Straftäter über und über mit Tätowierungen bedeckt sind. Mit der Zeit lernt Kornelia Schistka-Streck, die Zeichen zu deuten: Die Katze gilt als Symbol der Diebe; kleine Kreuze auf den Fingerknochen stehen für jeden Gang in den Knast; ein Viereck mit einem Herz heißt "Aufbrecher eines haarigen Safes" - der Täter hat Kinder, Teenager und Frauen vergewaltigt. Aber auch biografische Infos sind dabei: Ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte bedeutet "Vollwaise". Manchmal wird sogar das Motiv des Verbrechers verraten: "Zum Dieb wegen Elend und Zerrüttung der Familie geworden."

Kritik an die eigenen Leute

Das sind die harten Fälle. Die trifft man im besten Fall auf der Anklagebank, nicht aber in der Rhön. Aber es sind ja auch gar nicht diese Menschen, die Schistka-Streck meint, wenn sie von der "verlorenen Generation" spricht. Zumindest nicht nur. Und es sind auch nicht nur die deutschen Behörden, die sie dafür verantwortlich macht, dass manche russlanddeutsche Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten. Ein Teil ihrer Kritik geht an die eigenen Leute.

"Ich sage immer: Ihr habt keine Schafe und Ziegen hierhergebracht, sondern eure Kinder. Und ihnen die Chancen vermasselt", sagt Schistka-Streck. Denn auch das ist ein Teil der Wahrheit: "Die Mütter putzen, die Väter arbeiten oder sind dem Alkohol verfallen. Viele Familien zerbrechen daran." Natürlich nicht alle. Aber doch zu viele.

Und dann bestätigt die Frau, die in der Ukraine Germanistik und Pädagogik studiert hat, ein Klischee. Sie sagt tatsächlich, dass in manchen russlanddeutschen Familien Statussymbole wie ein neues Auto oder eine tolle Wohnung wichtiger seien. Mit harter Arbeit bauten sich die Eltern in Deutschland ein Leben in Wohlstand auf - und verlören dabei ihre eigenen Kinder.