Die Gesellschaft sollte erkennen, was in Erkrankten vor sich geht und Verständnis entgegenbringen. Wie dies gelingen kann, erklärte Pastoralreferentin Johanna Schießl in der Sitzung des Seniorenbeirates.
Nicht die pflegenden Angehörigen oder Betreuer standen diesmal im Mittelpunkt, sondern die Betroffenen und ihre Würde: Zu Beginn der Demenzwoche hielt Pastoralreferentin Johanna Schießl vor dem Seniorenbeirat einen Vortrag über den Verfall der Persönlichkeit.
Johanna Schießl erzählt von einer Heimbewohnerin, die um 17 Uhr völlig geschafft ist, weil sie denkt, sie werde im Stall erwartet, aber keine Chance sieht, dorthin zu kommen, weil sie im
Rollstuhl sitzt. Schießl: "Diese Dame verzweifelt an und in der Welt, in der sie lebt." Aber verständnisvolles und geduldiges Pflegepersonal wisse die Frau zu beruhigen - mit einem Trick. Sie sagten, ein Knecht habe im Stall geholfen.
"Ich will nach Hause", ist ein häufiger Satz, den Demenzkranke stereotyp sagen, selbst wenn sie schon seit zehn Jahren im selben Heim wohnen.
Da die Betroffenen gedanklich in der Zeit leben, als sie 30 oder 40 Jahre alt waren und eine Familie zu versorgen hatten und glauben, dies immer noch tun zu müssen, aber es nicht können, erleben sie eine doppelte Not.
Der Pastoralreferentin liegt am Herzen, zu erkennen, was Demenzkranke bewegt. Sie möchte, dass es in der Gesellschaft Verständnis für die Krankheit und die Betroffenen gibt.
"Demenzkranke haben eine Lebensgeschichte, sie haben unseren Staat mit aufgebaut, haben gelebt, geliebt, gelitten", gab Schießl zu bedenken.
Die Anfänge der Erkrankung nehme der Betroffene wahr und leide unter dem Verlust von Kompetenz, Identität und Selbstwert. Ausgleichsverhalten sei die bekannte Folge: Die Betroffenen bauen eine Fassade auf, bagatellisieren, vermeiden das, was sie nicht mehr zu leisten imstande sind und konzentrieren sich als Hilfsmittel auf eine
Bezugsperson, was für diese mit der Zeit eine "riesige Überforderung" darstelle. Automatisierte Tätigkeiten wie Laufen, Fahrradfahren oder Kuchenbacken bleiben, ebenso das Wissen um allgemeine oder geschichtliche Daten oder die Rechenfähigkeit. Auch die eigene Biographie, das Wissen über sich selbst, bleibt im Langzeitgedächtnis gespeichert. Anders ist es beim Kurzzeitgedächtnis.
Neue Informationen können nicht mehr richtig zugeordnet werden und geraten bei Demenz schnell durcheinander. Die Welt entgleitet mit dem Verlust der kognitiven Fähigkeiten. Dies stelle für den Menschen und seine Würde die größte Bedrohung dar. "Du bist, woran du dich erinnerst" - dieser zitierte Titel bringe die Krankheit Demenz auf den Punkt.
Schießl blickte auf viele nickende und zustimmende Gesichter.
Jeder kennt jemanden, der an Demenz erkrankt ist und der die beschriebenen Verhaltensweisen zeigt.
Die kognitiven Fähigkeiten der Erkrankten schwinden, doch das Gefühlsleben bleibe weitgehend erhalten. Nicht nur die sinnlichen Erfahrungen wie Geschmack und Berührung werden nach wie vor erlebt, sondern auch Sorgen, Ärger und Freude.
Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass es jeden treffen kann, forderte Johanna Schießl mehr Anerkennung der Demenzkranken in der Gesellschaft und gute Rahmenbedingungen für die professionelle und häusliche Pflege. Die Lebensqualität hänge weniger vom Schweregrad, als vielmehr von der Umwelt und Gesellschaft ab. Den dementen Menschen als Kostenfaktor wahrzunehmen, führe "sehr schnell zu Überlegungen von lebensunwürdigem Leben" im Allgemeinen.
Der Sterbehilfe wären Tür und Tor geöffnet. Nicht die Demenz an sich sei die Geißel der Menschheit, so Schießl, sondern die "schleichende Umwertung und Entsolidarisierung der Gesellschaft".
Drastisch fielen Äußerungen wie "Das ist doch kein Leben mehr", wenn der Lebensweg von Behinderung oder schwerer Krankheit durchkreuzt wird.
Wie soll man sich richtig verhalten? Vor allem anderen brauche es Geduld, Respekt und die Fähigkeit, die eigene Hilflosigkeit aushalten zu können. Mit Blick auf das Programm der Gesundheitsstadt Bad Brückenau bleibt für Johanna Schießl dennoch die Frage offen: "Wie gehen wir mit Krankheit um?" Demenz und Endlichkeit lägen nicht in des Menschen Hand.