Welche Auswirkungen hat es auf die Entwicklung des Kindes, wenn Geborgenheit innerhalb der Familie fehlt oder das Kind größtenteils in der Kita betreut wird?
Durch Schwangerschaft und Geburt ist das Baby im ersten Lebensjahr auf die Mutter geprägt und später auf seine Familie. Diesen Fürsorgerahmen braucht das Kind, um in dieser überschaubaren Geborgenheit seine kleine eigene Persönlichkeit zu entfalten. Aufgrund der angesprochenen Unreife im ersten Lebensjahr ist Fremdbetreuung aus dieser Perspektive ein No Go. Im zweiten Lebensjahr, wo die Bindungsbeziehung zu den primären Beziehungspersonen sich etabliert und verfestigt, sollte eine Fremdbetreuung vermieden werden. Der Grund dafür: Das Kind hat eigene Entwicklungsaufgaben zu meistern. Diese stellt es eventuell zurück, wenn es die Entwicklungsaufgabe Fremdbetreuung meistern muss.
Die Qualitätsstandards der Kinderbetreuung sind in Deutschland hoch und Kinder gehen auch in diesem Alter oftmals gern in die Kita. Wie stehen Sie dazu?
Kinder sind ungemeine Anpassungskünstler - nicht alle, einige schreien schon ganz entsetzlich und machen damit kund, was ihnen gut tut oder nicht - und insofern sind viele Eltern beruhigt, wenn ihr Kind diesen Ablauf toleriert.Das eventuell fehlendende, stressverarbeitende System des Kindes meldet sich oftmals erst in späteren Krisen zu Wort.
Kann denn zumindest besonders gut ausgebildetes Personal, das für die Kleinkinder zuständig ist, auf die speziellen Bedürfnisse der Kleinkinder eingehen?
Das Kind benötigt Überschaubarkeit und auf Grund seiner hirnorganischen Unreife kann es ein Zuviel an Eindrücken noch nicht verarbeiten. Es muss erst seinen eigenen Biorhythmus entwickeln. Zudem zeigt der Alltag in den Kitas, dass ein häufiger Bezugspersonenwechsel besteht. Durch Urlaub, Weiterbildungen und Teilzeitarbeit ist ein konstanter Rahmen, den das Kind unbedingt benötigt, nicht möglich. Das heißt, die Kita kann in der Regel - und es gibt einige sehr wenige Ausnahmen - auch familiäre Defizite nicht ausgleichen.
Was hat das für konkrete Auswirkungen auf das Erwachsenenalter?
Wenn ein Kind diese Form der Fürsorge nicht erlebt, können sich im Gehirn nicht jene Vernetzungen entwickeln, die für die Stressregulation in den späteren Lebensjahren von größter Bedeutung sind. Natürlich muss sich das kleine Wesen auch an diese weniger günstigen Beziehungsangebote anpassen, da es ja keine andere Möglichkeit hat. Es kann aber sein, dass in diese Anpassungsstrategien eventuell schon beziehungsvermeidende oder sehr ambivalente Beziehungsmuster "eingebaut" sind. Bei später im Leben auftauchenden Krisen fehlen dann günstige Bewältigungsstrategien. In der Kindheit drückt sich das eventuell in Verhaltensauffälligkeiten, getrübter Lebensstimmung, aversivem Aufbegehren, mutlosem Rückzug und im Erwachsenenalter als Depression oder in Form von psychosomatischen Beschwerden aus.
Kann Geborgenheit - oder wie Sie sagen Bindung - nachgeholt werden, wenn es in den ersten Jahren an Bindungspersonen gefehlt hat?
Die ersten zwei Jahre haben Prägestatus. Das heißt, dass die Erfahrungen unauslöschlich in das kindliche Gehirn eingeprägt werden. Dies gilt sowohl für gute als auch für weniger gute Erfahrungen. Wenn nun jemand mit guten Erfahrungen im späteren Leben auf schwere Krisen trifft, kann dieses Gefühl von "innerer Geborgenheit" verloren gehen, doch ist es wieder leichter aufzubauen, wenn sich günstige Lebensumstände einstellen. Wenn die Basis jedoch von Nicht-Geborgenheit - in der Fachsprache von unsicherer Bindung - geprägt ist, kann im späteren Leben zwar keine Auslöschung, aber eine Überformung geschehen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Ein früh verletzter Mensch nimmt sich einen Partner, der in seinen Gefühlen von innerer Geborgenheit nicht so leicht zu erschüttern ist. Dieser reagiert auf Irritationen und Verletztheiten seines Gegenüber nicht ebenfalls mit Verletztheit und Rückzug. Daraus kann im Laufe einer langen, von familiären Geborgenheit erlebten Beziehung, eine positive Überformung der alten Muster stattfinden.
Für viele Familien ist es ein finanzielle Faktor der dazu führen, dass die Mutter so schnell wie möglich nach der Geburt wieder arbeiten geht. Auch im Sinne der Emanzipation versuchen Frauen so früh wie möglich wieder in den Beruf einzusteigen. Was raten Sie diesen Familien?
Der heutige Zeitgeist vermittelt, dass die berufliche Ausgestaltung das zentrale Bedürfnis ist. Das macht in späteren Jahren, wenn die Kinder etwas größer sind, sehr wohl einen Sinn. Doch ist die Ausgestaltung einer reifen Form von Elternschaft ebenfalls ein hochwertiges Lebensziel. Beziehung braucht Zeit und lässt sich nicht auf "Qualitätszeiten" zurechtstutzen. Wenn jedoch in Familien die Fremdbetreuung tatsächlich nicht zu vermeiden ist, dann müssen Eltern unbedingt wissen, dass ihr kleines Kind danach unendlich gestresst ist, sich vielleicht recht schwierig verhält und dann die regulatorische Fürsorge und Körpernähe dringlich braucht, die es tagsüber entbehren musste. Ein Kind, das sich zum Beispiel in der Krippe und in der Kleinkindgruppe selbstständig anzieht und isst, kann eventuell abends diese Prozesse nicht mehr vollziehen und vermittelt dadurch: "Ich will versorgt werden".
Das Gespräch führte Julia Raab
INFOKASTEN
Zur Person: Die Professorin Eva Rass ist 72 Jahre alt und lehrt an der Hochschule Mannheim, der Ärztliche Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e.V. München, der Pädagogische Hochschule Heidelberg, der Hochschule Mannheim, dem Institut für Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie Heidelberg und dem Institut für Psychoanalyse und Analytische Psychotherapie e.V. Würzburg.
Sie führt eine Psychotherapie-Praxis in Buchen bietet sie Einzel- und Gruppentherapie, kindzentrierte Familiengespräche, Psychotherapie für Eltern mit Kleinkindern, und psycho-edukative Beratung und Supervision an.