Verwirrspiel um Schein und Sein in Bad Brückenau

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Der Zauberer Bastian Hunger überreicht dem Ehemann Simon Düsterdiek die Schatulle, Hotelmusiker, Gäste und Zauberergattin Lorena Helfrich schauen skeptisch zu. Foto: Thomas Dill
Der Zauberer Bastian Hunger überreicht dem Ehemann Simon Düsterdiek die Schatulle, Hotelmusiker, Gäste und Zauberergattin Lorena Helfrich schauen skeptisch zu. Foto: Thomas Dill
Die Eröffnungsszene lässt auf eine kurzweilige sommerliche Komödie schließen. Die Hotelkulisse, dezent und dennoch mit viel Liebe zum Detail durch das siebenköpfige Technikteam erstellt. Foto: Thomas Dill
Die Eröffnungsszene lässt auf eine kurzweilige sommerliche Komödie schließen. Die Hotelkulisse, dezent und dennoch mit viel Liebe zum Detail durch das siebenköpfige Technikteam erstellt. Foto: Thomas Dill
 
Simon Düsterdiek hält seine zurückgekehrte Ehefrau Marina Kraus in seinem Irrglauben aus Sein und Schein für irreal. Das Leugnen der Realität lässt auch den Zauberer Bastian Hunger und Gattin Lorena Helfrich im Hintergrund ratlos zurück . Foto: Thomas Dill
Simon Düsterdiek hält seine zurückgekehrte Ehefrau Marina Kraus in seinem Irrglauben aus Sein und Schein für irreal. Das Leugnen der Realität lässt auch den Zauberer Bastian Hunger und Gattin Lorena Helfrich im Hintergrund ratlos zurück . Foto: Thomas Dill
 
Der Zauberer Bastian Hunger und seine Helfershelfer Markus Mathes, Lorena Helfrich, Emma Ferkinghoff und Robert Nelkenstock streiten über die Mühsal des täglichen Broterwerbs Foto: Thomas Dill
Der Zauberer Bastian Hunger und seine Helfershelfer Markus Mathes, Lorena Helfrich, Emma Ferkinghoff und Robert Nelkenstock streiten über die Mühsal des täglichen Broterwerbs Foto: Thomas Dill
 
Die zwei Hauptakteure: der Manipulator Bastian Hunger und der verzweifelnde ergraute Simon Düsterdiek. Foto: Thomas Dill
Die zwei Hauptakteure: der Manipulator Bastian Hunger und der verzweifelnde ergraute Simon Düsterdiek. Foto: Thomas Dill
 

"Kompass" präsentiert Schultheater nicht nur als reines Theaterspiel, sondern als Lern- und Denkprozess für die Akteure und dann zum Zeitpunkt der Aufführung auch für die Zuschauer.


1948 verfasste Eduardo de Filippo (1900-1984), neben Dario Fo wohl der berühmteste Autor der italienischen Nachkriegszeit, seine Komödie "La grande magica - Der große Zauber". Dieses, in Deutschland nicht oft gespielte Stück, wählte sich die Theatergruppe "Kompass" vom Franz-Miltenberger-Gymnasium aus. Wer den "Intendanten" Dirk Hönerlage und seine Truppe kennt, ist sich bewusst, dass auf der intimen Bühne des Lola-Montez-Saals im Staatsbad, nur oberflächig betrachtet eine Komödie zur Aufführung gelangt. In den drei aus verkauften Vorstellungen schafften es aber die meisten Zuschauer, die dramatischen Abgründe und vielschichtigen Ebenen des Stücks zu erschließen, vor allem dank der begeisternd vielschichtigen Schauspielkunst der Akteure.

Kurz die Handlung: Ein Zauberkünstler, der selbst offenbar am meisten an seine Kunst glaubt, "verzaubert" sein Publikum in einem italienischen Strandhotel. Darunter ein "Kotzbrocken" von Ehemann. Der Geliebte der Frau lässt gegen Bezahlung diese vom Zauberer für eine Viertelstunde "wegzaubern". In Wahrheit zwingt er sie, mit ihm abzureisen. Um seinen Zauberschwindel nach dem Verschwinden der Frau nicht platzen zu lassen, gaukelt der Magier dem Ehemann vor, seine Frau befinde sich in einer kleinen Schatulle, und nur wenn er ganz fest daran glaubt, wenn er die Schatulle öffnet, erscheint sie wieder. Der gehörnte Ehemann zweifelt daran, traut sich aber nicht die Schatulle zu öffnen. Vier Jahre, der Ehemann ergraut, der Zauberer schmarotzt sich im Haus des Gehörnten derweil durch, geht dieser Bluff von Realität und Illusion weiter. Für den Ehemann baut sich eine Parallelwelt auf. Als die reumütige Ehefrau zurückkehrt, hält er sie für eine Chimäre, für nicht real und verstößt die jahrelang Zurückersehnte. Sein und Schein haben den Platz getauscht.

Allmählicher Realitätsverlust

Simon Düsterdiek spielt den Ehemann, der zunächst herrisch und arrogant auftritt, dessen Fassade aber bröckelt, als er es nicht wagt, die Schachtel gleich zu öffnen. Gefühlvoll zeigt er den allmählichen Realitätsverlust auf, die Illusion des Zauberers wird seine Realität. Eine ganze Szene lang zelebriert diesen Realitätsverlust, um zum Finale hin plötzlich wieder der zu sein, der die Fäden in der Hand hat, getreu der These: Alles, was sich ereignet, ereignet sich nur in unserer Vorstellung. Sein Gegenpart, der Schein also, der Zauberer und Menschenmanipulator, wurde ebenso eindringlich von Bastian Hunger dargestellt. Auch er erkennt, beim Tod einer jungen Frau aus seinem Umfeld erschüttert, dass auch er zu einem Zauberexperiment gehört, das ein noch bedeutender Zauberer durchführt, ein Zauberer, der Herr über Leben und Tod ist. Setzt man diesen Satz in Zusammenhang mit dem Glauben des Ehemanns an die einfache Schatulle als Sinnbild seiner Ehefrau, steht die Frage nach Gott im Raum. Auch die zwischenmenschlichen Beziehungen werden in diesem Theater der menschlichen Irrungen angedeutet. Eifersucht, Ehebruch, der Geschlechterkampf mit der männlich maskulinen Selbstwahrnehmung, die weibliche Besserwisserei, hier vor allem eindrucksvoll von Lorena Helfrich als Ehefrau des Zauberers interpretiert. Und dann die Erfüllung eines häufig geträumten Wunsches, die eigene Frau verstummt, verzaubert in eine Schachtel, die tunlichst bleiben muss, um den Zauber nicht zu brechen. Aber welchen, die Haare ergrauen lassenden Preis, muss Mann dafür zahlen: die Einsamkeit. Marina Kraus, die unglückliche Ehefrau, zeigt eine weitere Ebene des menschlichen Spiegelkabinetts auf: Ihr Traumprinz, der sie für eine Viertelstunde aus ihrem unglücklichen Alltag holen soll, entpuppt sich als Macho. Vier Jahre braucht sie offenbar, um ihren Ehemann wieder wertzuschätzen und reumütig zurückzukehren. Selbst die große Politik gehört zu diesem Spiel aus Sein und Schein, wie in der Öffentlichkeit große Illusionen erzeugt werden. Das spricht der Zauberer sogar deutlich aus: In Politik und Wirtschaft werden wahnwitzige Illusionen zum Schaden aller gemacht - im Umkehrschluss darf es sich der kleine Mann, hier der Zauberer, es erlauben, ebenfalls Scheinwelten aus Lügen und Fantasien aufzubauen. Die übrigen 15 Akteure, gut die Hälfte erstmalig im Ensemble aktiv, sind durch Nebenhandlungen geschickte Stichwortgeber, um immer mehr Facetten dieses Spiegelkabinetts zu offenbaren, die Komödie wandelt sich unterschwellig zu einer metaphysischen Parabel über Vorsehung, die heutige Rat und Orientierungslosigkeit, die Hörigkeit gegenüber Manipulationen und Meinungen anderer.

Wer die Kinofilme "Matrix", "Inception" oder "Tribute von Panem" kennt, kann dieses Theaterstück in dieselbe Reihe stellen: Was ist Schein, was Sein? Was ist wahr, was ist falsch? Dieses menschliche Theater als Spiegelkabinett auf die Bühne zu bringen, ist den Akteuren trefflich gelungen. "Wir haben uns beim Probenwochenende in Rieneck so viele Ebenen/Spiegel erarbeitet, dass es allen Akteuren möglich war, über die Komödie hinaus die Charaktere ernsthaft zu entwickeln und in jedem der jungen Schauspieler weitere Denkprozesse anzustoßen", sagt Hönerlage zum tieferen Erfolg des Schauspiels. Schultheater nicht nur als reines Theaterspiel, sondern als Lern- und Denkprozess für die Akteure, und zum Zeitpunkt der Aufführung auch für die Zuschauer. "Zeit ist eine Übereinkunft des Menschen, um nicht sinnlos dahin zu vegetieren": Getreu diesem Satz in dem Stück dürfte Hönerlage und sein Team die Zeit nutzen, ein neues vielschichtiges kleines Theaterstück zu erarbeiten.