Judith Herzbergs Trilogie "Über Leben" schildert langatmig die Irrungen und Wirrungen einer jüdischen Familie in den Niederlanden. Regisseur Klaus Kusenberg machte am Nürnberger Staatstheater einen strapaziösen Abend daraus.
Dümmliche Wortspiele verbieten sich angesichts des Themas naturgemäß. Aber man darf schon darauf hinweisen, dass die Zuschauer Ausdauer mitbringen müssen - bei der Premiere von "Über Leben" am Nürnberger Staatstheater, der Dramen-Trilogie der heute fast 80-jährigen niederländischen Autorin Judith Herzberg, hielten nicht alle bis zum Ende des dritten Teils durch.
Zum zweiten Mal erst ist die Folge von "Leas Hochzeit" (1982), "Heftgarn" (1995) und "Simon" (2002) in Deutschland am Stück inszeniert worden. Schauspieldirektor Klaus Kusenberg wagte sich drei Jahre nach dem Deutschen Theater in Berlin an die Familiengeschichte, die ähnlich wie die Forsyte-Saga in scheinbar unendlich mäanderndem Strom die Geschichte einer großbürgerlichen Familie erzählt.
Es ist jedoch eine besondere Familie, deren Mitglieder und Freunde da im Amsterdam der Jahre 1972, 1979 und 1998 lieben und hassen, sich streiten und wieder versöhnen und, vor allem, sich nahezu undurchschaubar paaren, trennen und neue Verbindungen eingehen. Da schaute so mancher Premierenbesucher Hilfe suchend ins Programmheft, in dem eine Genealogie steht. So ganz durchschaut man das Beziehungsgeflecht von drei Generationen einer jüdischen Familie dennoch nicht.
Was auch gar nicht notwendig ist. Das Treiben von Ada (Renan Demirkan), Simon (Jochen Kuhl), Lea (Nicola Lembach), Nico (Daniel Scholz), Pien (Josephine Köhler) und Zwart (Frank Damerius), um nur einige der insgesamt 17 Personen zu nennen, die in rund 125 Szenen ihr Leben ausbreiten, ist nur die Oberfläche, unter der es brodelt. Ob bewusst oder unbewusst, ausgesprochen oder (meist) unausgesprochen: Die Erfahrungen von Verfolgung während des Zweiten Weltkriegs, von Vertuschung, Trauer und Schuldgefühlen spielen stets mit.
Die Hauptpersonen Ada und Simon zum Beispiel: Sie haben ihre Tochter Lea, die zu Beginn der Trilogie zum dritten Mal heiratet, der Pflegemutter Riet überlassen. Und warum hat Simon überlebt, sein Schicksalsgefährte jedoch nicht? Oder Zwart. Coram publico trauert er seiner ermordeten jüdischen Frau Liese hinterher und demütigt seine aktuelle Angetraute Duifje (die eher blass bleibende Adeline Schebesch).
Humor ist auch dabei Herzberg setzt keineswegs auf Ergriffenheits-Pathos. "Warum hast du's nur so mit den Juden?", darf Zwart mal flachsen; die Maskenbildner schminkten die alternden Protagonisten meisterhaft. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob die psychischen Folgen vergangener Schrecken, ihre Wirkung auf den Lebensweg der Figuren, plausibel vermittelt werden. Die Antwort ist: nur zum Teil. Inwieweit etwa findet der Vater-Sohn-Konflikt zwischen Nico und Zwart seine Grundierung in frühen Traumata? Die ungleiche Verbindung von Dory und Simon, die Rivalität zwischen Dory und Pien, die Promiskuität Hans'? Es wäre Aufgabe der Regie gewesen, solche Akzente herauszuarbeiten, zu kürzen, zu straffen. Es bleibt verborgen, warum die Autorin eine solche Soap Opera konstruieren musste. Das eigentliche Thema, die Traumatisierung durch die Leiden der Vergangenheit, wirkt wie aufgepfropft und verschwindet im Beziehungsgeflecht. Das zu entwirren wäre die Aufgabe der Regie gewesen.
Stattdessen lässt Kusenberg seinen Figuren auf einer rundum mit Laminat ausgelegten, fast leeren Bühne (Günter Hellweg), die sich im zweiten und dritten Teil des Abends nach hinten weitet, viel Raum. In "Heftgarn" sprechen sie häufig direkt ins Publikum, in "Simon", als rotzig-freche Teenager von den Gespenstern der Vergangenheit endgültig nichts mehr wissen wollen, fasert die Handlung aus. Die verstorbene Ada taucht als Wiedergängerin auf, die Figuren warten wie bei einer Familienaufstellung auf ihren Einsatz. Dies alles ermüdet ungemein und lässt das Anliegen verschwinden.
Zwar ist es eine mit kleinen Abstrichen beeindruckende Leistung, die das Ensemble bot und die auch mit heftigem Beifall belohnt wurde. Herausragend waren Renan Demirkan, Joachim Kuhl und Nicola Lembach. Was bleibt jedoch? Ein in mancher Hinsicht beachtlicher Abend. Ein großer Theaterabend war es nicht.
Weitere Vorstellungen 12., 16., 21., 27. März; 3., 5., 13., 29. April; 10., 24., 31. Mai; 7., 12. Juni; 18., 25. Juli. Beginn jeweils um 19 bzw. 18.30 Uhr!
Karten unter Tel. 0180/5231600, E-Mail: info@staatstheater.nuernberg.de.
Dauer ca. 4 Stunden, 2 Pausen