Diskussion über Skandale in der digitalen Welt

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Horst Köhler zu Besuch in Afghanistan 2010. Auf dem Rückflug führte er das Interview, das zu seinem Rücktritt führte - einem Studenten waren die Sätze aufgefallen. Foto: Maurizio Gambarini/dpa
Horst Köhler zu Besuch in Afghanistan 2010. Auf dem Rückflug führte er das Interview, das zu seinem Rücktritt führte - einem Studenten waren die Sätze aufgefallen. Foto: Maurizio Gambarini/dpa
Christian Illies
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Theresia Enzensberger
Theresia Enzensberger
 
Bernhard Pörksen
Bernhard Pörksen
 
Friedhelm Marx
Friedhelm Marx
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen und die junge Journalistin Theresia Enzensberger diskutierten über Skandale und Strategien in der digitalen Welt.

Am dritten und letzten Tag der Hegelwoche wurde es sozusagen basisdemokratisch. Ging es im Vortrag John von Düffels am Dienstag um die Rolle des Theaters in einer total inszenierten Welt und am Mittwoch um die Politik(er) als Schauspiel(er), redeten die Veranstalter Christian Illies und Friedhelm Marx und ihre Gäste am Donnerstagabend sozusagen pro domo: Denn wir alle stehen in Zeiten der sozialen Medien, des Internets auf der Bühne, und es wird wahrgenommen, wie wir uns dort bewegen - so der Literaturwissenschaftler Marx zur Einleitung.

Wie nun mit dieser Situation umgehen? Zwei Medienprofis waren eingeladen. Einmal die Journalistin Theresia Enzensberger (28). Sie ist eine Grenzgängerin zwischen der analogen und der digitalen Welt und versucht mit dem auf Subskriptionsbasis und durch Anzeigen finanzierten "Block-Magazin" neue printjournalistische Wege zu gehen ebenso wie als "Krautreporterin" im Online-Journalismus.
Für Enzensberger als digital native sind die Grabenkämpfe zwischen neuen und alten Medien, Internet und Print, längst obsolet geworden.

In ihrem kurzen Referat umriss sie die Geschichte des Internets, das vor 20 Jahren noch als Möglichkeit zur basisdemokratischen, anonymen Teilhabe bejubelt worden war. Die Ernüchterung kam schnell. Mit Konzernen wie Google oder Facebook wurde Anonymität im Netz als "gefährlich, verlogen, kriminell" (Mark Zuckerberg) denunziert, und das Geschäftsmodell, mittels Daten der Nutzer die Lücke zwischen echter und virtueller Identität zu schließen, dominierte.

Was tun? Ganz ähnlich der Medientheorie ihres Vaters Hans Magnus Enzensberger ("Bausteine zu einer Theorie der Medien", 1970 im "Kursbuch") warb sie für einen kreativen, alternativen Umgang mit sozialen Medien, wie ihn etwa die Plattform "4chan" - keine Registrierung, Daten werden automatisch gelöscht - in den USA bietet. Ein Hoffnungsschimmer ist für sie, dass die Nachfrage nach Anonymität im Netz steigt; als eher skurril dagegen erwähnte sie eine kleine Bewegung der Neoludditen (Ludditen waren Maschinenstürmer des frühen 19. Jahrhunderts), die digitale Askese predigen.

Neue Verzagtheit

Was für den zweiten Gast des Abends, den Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (45), wohl keine Option darstellt. Der Tübinger Professor, überaus umtriebiger Verfasser u. a. von Büchern über "Medienmenschen" und moderne Methoden der Skandalisierung, schilderte ebensolche am Beispiel des Rücktritts von Horst Köhler 2010. Ein beiläufig geäußertes Statement zu deutschen Militäreinsätzen wäre unbeachtet geblieben, hätte es nicht ein Student ausgegraben und als Multiplikator die Skandal-Lawine ins Rollen gebracht. Der Schluss Pörksens: Das Publikum ist im Skandalisierungs-Mechanismus selbst zu einem Player geworden. Ein "Agenda-Setting von unten" schalte den Journalismus als "Gatekeeper" aus, zumal "Zombie-Informationen" im Netz umhergeisterten und jederzeit unheilvoll auftauchen könnten.

Das bedeutet, so Pörksen, dass die Skandalisierung jeden erreichen kann: Mit "indiskreter Technologie" könne jeder weltweit und blitzschnell ins Netz gefeuert werden. Insbesondere in der Politik generiere dieses digitale Damoklesschwert eine "neue Verzagtheit" und "Hochrüstung im Inszenierungsgeschäft". Als eine Art
neokategorischen Imperativ hielt er fest: "Handle stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt!"

In der Diskussion auch unter Beteiligung des Publikums ging es um die Möglichkeit einer "Technik, die uns zur Ethik zwingt" (Illies) - von den meisten als Zensur abgelehnt. Problematisiert wurde insbesondere die Vermeidungsstrategie der Politik aus "vorweggenommener Skandalisierungsphobie". Keine große Programmrede mehr, keine erregten Debatten, stattdessen Stillhalten. Angela Merkel als die "eigentliche Medienkanzlerin" (Pörksen)? Wieder einmal wurde auch die Forderung nach umfassender Medienerziehung erhoben, damit die "digitale Pubertät" überwunden werde.

Der Abend machte den enormen Kulturbruch durch die Digitalisierung im positiven wie negativen Sinn wieder einmal bewusst. Die Deskription insbesondere durch Pörksen war vortrefflich. Doch wo blieb dessen Kritik? Die Internet-Wirtschaft ist nur Teil der kapitalistischen Wirtschaft. Wer von der einen schweigen will, sollte von der anderen nicht reden.