Europa, das war und ist auch der Realität gewordene Traum von Reisefreiheit und dem Ende der Schlagbäume. Dass die deutsche Bundesregierung nun vorübergehend wieder Grenzkontrollen eingeführt hat, wirft deshalb ein besonders grelles Schlaglicht auf den derzeitigen Zustand Europas.
Die Bundesregierung fühlt sich bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise von ihren Nachbarn im Stich gelassen, und hat in diesem Eindruck vollkommen Recht. Mit süffisant hochgezogenen Augenbrauen und gespielter Sorge haben Polen und Ungarn, aber auch England oder Frankreich in den zurückliegenden Wochen verfolgt, wie Deutschland zehntausende Flüchtlinge ins Land ließ und dabei auch geltende Rechtsvorschriften vorübergehend außer Kraft setzte.
Es mag schon sein, dass sich die Deutschen und mit ihr die Kanzlerin auch ein wenig an der eigenen Großzügigkeit und Mitmenschlichkeit berauscht haben. In Wahrheit kam dies den europäischen Nachbarn aber mehr als zupass.
Ihre Empörung über den gefühlsdusseligen "Hippie-Staat" (Anthony Glees) im Herzen Europas war heuchlerisch.
Die Einführung von Grenzkontrollen ist ein Schrei nach Solidarität und ein Appell an das Verantwortungsgefühl der Staaten Europas. Die Aufnahme, Abschiebung und gesellschaftliche Eingliederung ist keine deutsche Herausforderung, sondern schlichtweg eine gesamteuropäische.
Eine Quotenregelung, anhand derer die Flüchtlinge auf die Mitgliedsstaaten verteilt werden, ist ein Gebot von Vernunft und gelebter Verantwortung. Aber es braucht noch mehr: identische Gesetze, Regeln und auch Standards bei der Unterbringung der Flüchtlinge. Staaten, die eine Vereinheitlichung finanziell überfordern sollte, könnten Geld aus Brüssel oder einem einzurichtenden Fonds bekommen.
Europa ist seit jeher eine riesige Agentur zur Umverteilung von Geldern - warum nicht auch in der Flüchtlingsfrage?
Mit der Einführung der Grenzkontrollen gesteht sich die Regierung Merkel jetzt die Endlichkeit ihrer Kräfte und ihres guten Willens ein. Die vergangenen Tage hatten bisweilen den Eindruck erweckt, als wolle Deutschland die Flüchtlingskrise allein meistern. Keine Flüchtlingszahl schien zu hoch, kein Szenario zu düster. Dieser fröhliche Optimismus wirkte ansteckend und war eine grandiose Geste an die ungezählten Menschen, die erschöpft, aber voller Hoffnung am Münchner Hauptbahnhof aus den Zügen gestiegen sind.
Mit den Grenzkontrollen verordnet sich Deutschland nun wieder etwas mehr Nüchternheit und Sinn für die schiere Größe der Herausforderung. Für die Flüchtlinge im Land muss diese neue Nüchternheit noch nicht einmal etwas Schlechtes bedeuten.