"No Photos!" Sichtschutz mit deutlicher Botschaft soll die Sensationsgier im Zaum halten - oder besser: hinterm Zaun.
F rei von Neugierde ist wohl kein Mensch. Aber muss man an Unglücksorten vorbeischlendern wie ein Tourist an einer Sehenswürdigkeit? Muss man auf der Autobahn sein Tempo auf Schrittgeschwindigkeit drosseln und Schwerverletzte oder gar Tote filmen? Frank Ladnar, stellvertretender Leiter der Autobahnpolizei Biebelried, hat Gaffer der schlimmsten Sorte erlebt. Deshalb begrüßt er die Initiative von Berthold Diem, einem "Blaulichtfotografen", der für verschiedene Medien arbeitet und mehreren Feuerwehren je sechs Quadratmeter große Sichtschutzwände gesponsert hat. Die Barrieren aus leichtem Gewebe können von zwei Personen wie eine Decke gehalten oder schnell an Stative montiert werden.
Frank Ladnar hat bei schweren Unfällen auf der Autobahn erfahren, dass man manche Menschen regelrecht anschreien muss, damit sie weiterfahren. "Die blockieren die Gegenfahrbahn der Autobahn, weil sie ja alles sehen wollen." Natürlich müsse sich die Polizei als Erstes um die Unfallopfer und die Unfallaufnahme kümmern. Erst danach, wenn Zeit ist, können sich die Beamten an die Leitplane stellen, Kennzeichen und Fahrerbeschreibung notieren und Gaffer später juristisch belangen. "Neulich haben wir wegen der missbräuchlichen Handy-Nutzung nach einem Unfall 40 Anzeigen geschrieben."
Dürfte die Polizei eine Kamera aufstellen und das Geschehen filmen, gäbe es sicherlich noch viel mehr Anzeigen - allerdings ist das datenschutzrechtlich nicht erlaubt. "Aber wir tun alles, was wir personell leisten können", sagt Ladnar. Das gelte auch für den Sichtschutz: Die Autobahnpolizei versuche, die Einsatzfahrzeuge so an der Unfallstelle zu platzieren, dass die Opfer vor den Blicken der Gaffer geschützt sind.
Die Feuerwehr Geiselwind an der A3 behilft sich diesbezüglich mit Planen aus dem Baumarkt. "Wir halten die Planen vor den Unfallort, so lange dort Leute gerettet oder geborgen werden", berichtet der Geiselwinder Bürgermeister Ernst Nickel, der seit 34 Jahren aktiven FFW-Dienst auf der Autobahn versieht und schon etliche Fahrer - "speziell auch viele Lkw-Fahrer" - beim Filmen von Unfallstellen beobachtet hat. Allerdings, sagt Nickel, gebe es werktags durchaus Probleme: "Uns fehlt dann das Personal, um die Dinger überhaupt aufzustellen. Menschenrettung geht vor. Wenn jemand im Auto eingeklemmt ist und schreit, können wir nicht erst Planen aufspannen." Schnell zu platzierende, selbsttragende Sichtschutzwände würde er sehr begrüßen.
Auch Sven Appold vom Bayerischen Roten Kreuz findet mobilen Sichtschutz nötig - auch, um Folgeunfälle zu verhindern. "Wir begrüßen die Initiative von Herrn Diem und sind für jede Feuerwehr dankbar, die so ein Ding dabeihat."
Über "so ein Ding" verfügt seit kurzem die Feuerwehr Kitzingen. Laut Kommandant Markus Ungerer hat die Wand mehrere Vorteile: "Sie belehrt nicht und lenkt nicht durch einen langen Text ab." Die Aufschrift "No Photos!" und das Piktogramm von Einsatzfahrzeugen seien in einer Sekunde zu erfassen: "Eine klare Ansage, die in jeder Sprache verständlich ist."
Das sieht Bernhard Ziegmann ähnlich. Für den Bamberger Kreisbrandrat ist es eine Herausforderung für die Zukunft, Unfallstellen besser vor neugierigen Blicken zu verbergen: "Das Filmen im Vorbeifahren ist ein schwerer Eingriff in die Persönlichkeitsrechte und die Intimsphäre der verunglückten Menschen." Ziegmann befürwortet für den Kreis Bamberg den Kauf so genannter Verkehrsabsicherungsanhänger für die Feuerwehren, die auf den Autobahnen Dienst tun. "Der Anhänger wird vor der Einsatzstelle platziert und der Verkehr einspurig vorbeigeleitet. Der psychologische Effekt ist deutlich sichtbar: Die Leute fahren disziplinierter vorbei als an Polizei- oder Krankenwagen." In den Anhängern, deren Kauf noch diskutiert wird, sollen sich Sichtschutzwände befinden, die direkt vor dem Einsatzort die Blicke bannen.
Warum schauen viele Menschen eigentlich so gerne hin, wenn anderen Unglück widerfährt? Hat die Sensationsgier zugenommen? Markus Ungerer, Kommandant der FFW Kitzingen, sagt: "Es liegt wohl in der Natur des Menschen, sehen zu wollen, was passiert ist. Die Sensationslust ist, glaube ich, nicht wirklich anders als früher." Was sich jedoch geändert hat: "Die Menschen wollen immer weniger durch Notfälle anderer in ihrem Leben eingeschränkt werden, Egoismus und Gleichgültigkeit nehmen zu. Verständnis und Empathie verringern sich."
Die wohl einschneidendste Veränderung liege im wahrsten Sinne des Wortes auf der Hand: "Früher ist nicht jeder mit einem Fotoapparat herumgelaufen." In unserer Handy-Zeit aber sei "das Mitteilungsbedürfnis oft größer und schneller als der Gedanke über die Folgen des Postings".
Um das zu ändern, fordert der Geiselwinder Bürgermeister Ernst Nickel, dass jeder, der Rettungsarbeiten behindert, rigoros zur Kasse gebeten wird: "Wenn Leute Mitmenschen filmen oder sich so saudumm hinstellen, dass kein Rettungsdienst durch die Rettungsgasse fahren kann, dann müssten Geldstrafen und ein Fahrverbot her!"
Polizeisprecher Björn Schmitt (Präsidium Unterfranken) betont, dass man auch als ganz normaler Bürger helfen kann: Zivilcourage zeigen, Gaffern die Meinung sagen. Natürlich so, dass man selbst nicht auch noch zur Behinderung an der Unfallstelle wird. Schmitt empfiehlt, Bilder in sozialen Medien nicht kommentarlos hinzunehmen, sondern sich an den Absender zu wenden und ihn zu fragen: Muss das sein, dass du so etwas postest? "Wenn keiner mehr solche Szenen sehen will, sinkt der Reiz, sie zu filmen."
INFO: Berthold Diem hat die Sichtschutzwände bei einem Würzburger Unternehmen fertigen lassen: "Eine Plane ist schon für weit unter 100 Euro zu haben." Bei Abnahme mehrerer Exemplare gibt es entsprechend gestaffelte Preise. Potenzielle Sponsoren können das vorhandene Motiv gerne kostenlos verwenden. Fragen? Berthold Diem, teamdiem@t-online.de