Mit dem Kopf in der Heimat, mit den Beinen in Nürnberg: Der junge Journalist Pavell Novik aus Charkiw in der Ostukraine soll als Hermann-Kesten-Stipendiat eigentlich die Frankenmetropole kennen lernen. Aufgrund der Krise in seinem Heimatland ist der 28-jährige Journalist aber häufig mit den Gedanken in der Ukraine.
Noch sei die Situation in Charkiw vergleichsweise ruhig, berichtet Pavell Novik. Spätestens nach dem Attentat auf den Bürgermeister der Stadt vor zehn Tagen gehe aber auch in Nürnbergs Partnerstadt in der Ostukraine die Angst um. Auf den öffentlichen Plätzen und Straßen seien die Proteste gegen die neue Regierung in Kiew kaum spürbar.
"Nur 200 Menschen haben kürzlich für den Anschluss der Stadt an Russland demonstriert", berichtet Novik in Nürnberg auf Einladung des Amts für Internationale Beziehungen. Freilich hätten die ukrainischen Polizeikräfte in Charkiw trotzdem mit großer Härte reagiert. Die Anführer der Demonstranten seien festgenommen worden. Die Polizei habe nach der Demonstration verstärkt die Straßen kontrolliert. Zu neueren und größeren Unruhen in der Stadt könne es seiner Meinung nach schon am 9. Mai kommen, wenn im ganzen Land der "Tag des Sieges" über das Dritte Reich gefeiert werde. Auch Charkiw musste im Zweiten Weltkrieg schreckliches erleben. Die Stadt wurde von der Wehrmacht eingenommen und verwüstet. Auf dem Rückzug von der Roten Armee war Charkiw heftig umkämpft. Zuvor hatte Stalin in den 30er Jahren für Angst und Schrecken in der Stadt gesorgt. Im Frühjahr 1933 hungerte Stalin die Stadt aus. Durch den "Holodomor" sollen innerhalb weniger Monate über 45.000 Menschen umkommen sein.
Busse beschossen "In Lugansk und Donezk ist der prorussische Widerstand derzeit am stärksten", erzählt Novik weiter. Richtig schlimm sei die Lage freilich in Slawjansk, wo die ukrainische Armee die prorussischen Milizen gewaltsam entwaffnet hat. Journalisten-Kollegen seien in Slawjansk gewesen, als dort noch heftig gekämpft wurde. "Meine Kollegen konnten beobachten, wie ein Bus mit verwundeten Soldaten der ukrainischen Armee beschossen worden ist", erzählt Novik. Das alles werfe für ihn die Frage auf, ob die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 25. Mai tatsächlich im gesamten Land stattfinden könnten. Freilich sei es auch für ihn schwierig, in den Wirren der Krise den Überblick zu behalten. "Viele Seiten sind schuld. Nicht nur eine einzige Seite", sagt Novik. Für Journalisten sei die Arbeit derzeit besonders gefährlich. Prorussischen Milizen hätten einen Journalisten in Charkiw kürzlich zusammengeschlagen, nur weil er ukrainisch gesprochen habe.
Früher habe es aufgrund der Sprache keine Probleme gegeben. Die eine Hälfte der 1,5 Millionen Einwohner in Charkiw spreche russisch, die andere ukrainisch. Große Verständigungsprobleme gebe es freilich nicht. Man versteht sich auch über die kleine Sprachgrenze hinweg. Unterschiede gebe es freilich auch im Glauben. Die ukrainischstämmigen Bewohner sind Katholiken, die russischstämmigen Bürger gehören meist der russisch-orthodoxen Kirche an. Neben der aktuellen gebe es in seiner Heimatstadt leider auch eine alltäglich Krise. Die Zutaten: Alkoholsucht und Arbeitsplatzverlust. Diese wodkabefeuerten Teufelskreisläufe enden nicht selten in einem kompletten Auseinanderbrechen der Familien. In den letzten Jahren habe es aber Zeichen des Aufbruchs und des Aufschwungs gegeben. Dazu hätte auch die Fussball-Europameisterschaft beigetragen. Neben Stadien und Parkanlagen seien auch soziale Projekte vorangetrieben worden. Bürgermeister Hennadij Kernes kämpft derzeit in einem israelischen Krankenhaus um sein Leben. Sein Stellvertreter habe bis auf weiteres die Amtsgeschäfte übernommen.
Glaube spielt eine große Rolle Überhaupt spiele die jüdische Gemeinde in der Politik der Ostukraine eine starke Rolle. Da gibt es zum Beispiel den Bürgermeister aus Dnipropetrowsk. Ihor Kolomojskyj ist steinreicher Oligarch und gleichzeitig Vorsitzender der jüdischen Gemeinde dort. Die drittgrößte Stadt des Landes sei zwar etwas kleiner als Charkiw. Dafür aber wirtschaftlich umso bedeutsamer. Besonders dort entscheidet es sich, wie es mit der Ostukraine weitergeht. Noch bekennt sich Dnipropetrowsk zur neuen Zentralregierung in Kiew. Genauso wie der angeschossene Bürgermeister aus Charkiw, der ebenfalls zur jüdischen Gemeinde gehört. Auch in Odessa dominiere die jüdische Gemeinde die Politik. Auch dort bekenne man sich zum ukrainischen Nationalstaat. Bereits am 10. Mai macht sich Pavell Novik auf die Heimreise. Dann endet der 14-tägige Aufenthalt in der fränkischen Partnerstadt. Freilich freut er sich auf die Rückkehr. Aber im Gepäck hat er gleichzeitig viele Sorgen. Den jungen Journalisten erwarten unsichere Zeiten in seiner Heimat.
Hermann-Kesten-Stipendium Anlässlich des Stadtjubiläums im Jahr 2000 schrieb die Stadt Nürnberg zum ersten Mal das Hermann-Kesten-Stipendium für Autoren und Journalisten aus den Partnerstädten aus. Der große Literat und Weltbürger Hermann Kesten (1900-1996) verbrachte seine Kindheit und Jugend bis zur Vertreibung durch die Nationalsozialisten in Nürnberg und wurde später Ehrenbürger der Stadt. Er inspirierte die Stadt Nürnberg, vor allem schreibende, aber auch fotografierende und filmende Intellektuelle aus den mit ihr befreundeten Städten in aller Welt zu einer Reise nach Nürnberg anzuregen und sie zu einem mehrwöchigen Aufenthalt einzuladen.