Föderales System könnte Lösung des Ukraine-Konfliktes sein

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Dr. Norbert Schürgers, Leiter des Amtes für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg. Foto: Pelke
Dr. Norbert Schürgers, Leiter des Amtes für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg. Foto: Pelke

Dr. Norbert Schürgers leitet das Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg. Der 59-Jährige reist regelmäßig nach Charkiw. Nach dem blutigen Attentat auf den dortigen Bürgermeister Hennadij Kernes steht Schürgers in ständigem Kontakt. Wir haben mit ihm über die Lage in der ostukrainischen Stadt gesprochen.

Dr. Norbert Schürgers (59) leitet das Amt für Internationale Beziehungen der Stadt Nürnberg. Nach Charkiw, der ukrainischen Partnerstadt der Frankenmetropole, reist Schürgers seit 1991 regelmäßig. Damals hieß die Stadt in der Ostukraine noch Charkov und hatte sich gerade aus der Sowjetunion gelöst. Nach dem blutigen Attentat vor einer Woche auf Hennadij Kernes, den Bürgermeister von Charkiw, steht Schürgers in ständigem Kontakt mit der Partnerstadt. Wir haben mit ihm über die Lage in der ostukrainischen Stadt gesprochen.

Wie geht es Herrn Kernes?
Dr. Norbert Schürgers: Wir sind fast täglich mit unseren Kollegen telefonisch in Verbindung. Er ist nach Israel ausgeflogen worden, um in Haifa operiert zu werden. Nach meinen Informationen ist sein gesundheitlicher Zustand stabil.
Bis zu den nächsten Kommunalwahlen, die im Frühjahr 2015 stattfinden sollen, hat sein Stellvertreter Alexander Nowak die Amtsgeschäfte übernommen. Die Stimmung in der Stadtverwaltung von Charkiw war vor dem Attentat noch ausgesprochen gut. Nach dem Attentat hat sich das schlagartig ins Negative verändert.

Was sagen die "normalen" Menschen außerhalb der Stadtverwaltung?
Viele sind einfach verängstigt. Es gibt in Charkiw ein Nürnberg-Haus, das vom Partnerschaftsverein seit 1995 betrieben wird. Dort kommen viele Bürger hin. Dadurch habe ich einen kleinen Einblick, wie es den normalen Menschen gerade geht. So fragen sich beispielsweise viele: Auf welche politische Seite stelle ich mich? Andere fürchten um ihren Job. Einige haben schlicht auch Angst um Leib um Leben.

Was wollen die Menschen in der Ostukraine?
Viele Menschen wünschen sich eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland. Aber die meisten Menschen sind auch stolze Ukrainer. Sie orientieren sich aber weniger in Richtung Westen und EU. Das liegt nicht zuletzt an der geografischen Lage aber auch an der Tatsache, dass im Osten viele Bürger mit russischen Wurzeln leben. Man darf nicht vergessen: Als Nürnberg 1990 den Partnerschaftsvertrag unterschrieb, hatte die Stadt noch ihren russischen Namen Charkov und war Teil der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Erst im Laufe der 90er Jahre gewann die ukrainische Sprache an Bedeutung und so wurde auch die Stadt in Charkiw umbenannt. Doch die traditionell russlandfreundliche Haltung vieler Ostukrainer sollte nicht zum Schluss führen, dass sie mehrheitlich die prorussichen Separatisten unterstützen oder auch nur mit ihnen sympathisieren würden.

Die Lage in der Ukraine wird immer unübersichtlicher? Wie stellt sich die Situation aus Ihrer Sicht dar? Gibt es für Sie einen klaren Schuldigen in der Krise?
Das ist das Schwierige an der Sache. Eindeutig Gut und Böse wie schwarz und weiß gibt es in diesem wie in vielen anderen Konflikten auf der Welt nicht. Die Menschen in der gesamten Ukraine sollten demokratisch bestimmen dürfen, in welche Richtung ihr Land gehen soll. Es kann natürlich nicht sein, dass irgendwelche Milizionäre mit Waffengewalt bestimmen, wo es langgeht. Vielleicht muss die Ukraine föderaler werden, um den Unterschieden zwischen der Ost- und Westukraine gesamtstaatlich besser Rechnung tragen zu können. Ein föderales System könnte viel Dampf aus dem Kessel nehmen.

Apropos Milizionäre: War es falsch die Maidan-Demonstranten gleich als Freiheitskämpfer zu feiern?
Schwierige Frage. Ich glaube, dass es falsch war von der Maidan-Bewegung, nicht auf die Wünsche der Ostukrainer einzugehen. Die neue Regierung in Kiew hat mit dem Verbot der russischen Sprache einen großen Fehler begangen. Damit haben die neuen Machthaber in Kiew eine Lunte an das Pulverfass Ukraine gelegt.

Was kann eine Partnerstadt wie Nürnberg in diesen Tagen und Wochen tun?
Unsere Partner und Freunde bitten uns: Macht weiter! Verstärkt eure Aktivitäten! Jetzt mussten wir freilich einige Reisen absagen. Zumindest beim Jugendaustausch wollen wir aber weitermachen und Jugendliche aus Charkiw nach Nürnberg einladen. Darüber hinaus wollen wir im Rahmen des europäischen Städtenetzwerks "Eurocities" zusammen mit Wien und Warschau eine Konferenz in Charkiw ausrichten, um über gemeinsame Projekte zu beraten. Die Mensch-zu-Mensch-Beziehung kann manchmal dann schon Hilfe leisten, wenn dies auf der großen politischen Ebene noch nicht möglich ist. Das kennen wir in Nürnberg noch aus den Zeiten des Eisernen Vorhangs, wo wir trotz des Kalten Kriegs mit Städten wie Krakau, Prag oder Gera schon kooperiert haben. Apropos Krakau: Heute ist Krakau eine moderne, westeuropäische Großstadt. Charkiw ist seit 1990 beinahe stehen geblieben. Nur eine kleine Oberschicht hat dort Geld. Die einfache Bevölkerung will eine vernünftige Arbeit und etwas zu essen. Wenn die Menschen das nicht haben, sind sie offener für autoritäre und extremistische politische Ideen.