Eine türkische Fränkin berichtet aus Istanbul

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Ayse Sengün. Foto: privat
Ayse Sengün. Foto: privat
Für die Demonstranten gibt's eine Pfefferspray-Dusche ...
Für die Demonstranten gibt's eine Pfefferspray-Dusche ...
 
... und für die Straßenverkäuferin ein fettes Geschäft: Brillen gegen Tränengas und Masken des Internet-Kollektivs Anonymous verkaufen sich gerade besonders gut.
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Die Proteste halten an. Fotos: Sedat Suna und Tolga Bozoglu / dpa
Die Proteste halten an.  Fotos: Sedat Suna und Tolga Bozoglu / dpa
 

Das Auslandspraktikum in der 15-Millionen-Metropole Istanbul wurde für die türkische Fränkin Ayse Sengün aufregender als gedacht: Die 19-Jährige aus dem Frankenwald wurde dort von den Unruhen überrascht.

Zuerst fiel Ayse Sengül eine alte Frau auf. "Sie stand in der Menschenmenge am Taksimplatz und hat Gedichte über die Natur vorgetragen. Alle starrten sie an." Das war vergangene Woche am Mittwoch. Anderthalb Wochen nachdem Ayse Sengün in Istanbul angekommen war. Sie stammt aus Ludwigsstadt (Kreis Kronach), und hat im September eine Erzieher-Ausbildung an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Bamberg begonnen. "Die Schule hat mir das Auslandspraktikum in der Kita der Deutschen Botschaftsschule ermöglicht. Eine tolle Chance!"

In den sieben Wochen ihres Aufenthaltes möchte sie möglichst viel von Istanbul sehen. Sie erfuhr, dass Menschen wie die poetische Oma dagegen protestieren, dass auf dem Gelände des Geziparks ein Einkaufszentrum gebaut wird. "Ich habe mir nur gedacht: Ach, das ist aber schön, dass sich einige Naturliebhaber für den Park einsetzen."

Eine Woche voller Gewalt

Einen Tag später las sie bei Facebook von einer Demo auf dem am Gezipark gelegenen Taksimplatz. "Und von Freunden hörte ich, dass auch am Freitag viel los war." Die Polizei ging brutal mit Tränengasbomben und Wasserwerfern gegen die Demonstranten vor. Doch statt die Proteste aufzulösen, erreichte sie das Gegenteil: Am Samstag hatte sich die Zahl der Demonstranten vervielfacht, und von Istanbul griff die Protestbewegung über Nacht auf Ankara, Izmir, Gaziantep und knapp 50 weitere Städte über. Drei Menschen sind seitdem gestorben, über 4000 sind zufolge einer Ärzteorganisation verletzt - bei mehr als 40 soll der Zustand kritisch sein.

Die Demonstranten verabreden sich unter anderem über eine Atatürk-Seite auf Facebook. Auch Ayse Sengün ist Fan dieser Seite. "Weil ich so sehen kann, wann eine Demonstration geplant ist und mich entsprechend in meine Wohnung zurückziehen kann. Ich unterstütze diese Seite nicht", betont sie. Angst habe sie nicht, aber sie halte sich auch vom Taksimplatz fern. "Ich war bei keiner Demo und werde auch zu keiner gehen! Denen geht es schon lange nicht mehr um den Park, sondern um Tayyip Erdogan."

Das türkische Wirtschaftswunder

Ayse Sengün kritisiert, dass der Ministerpräsident tagelang nicht reagiert hat. Sie weiß, dass sein autoritärer Regierungsstil vielen Türken missfällt. "Aber schließlich wurde er vom Volk gewählt", wendet sie ein. "Und seit er regiert, hat sich die Türkei echt weiterentwickelt: Studierengebühren wurden aufgehoben, die Leistung der Krankenkassen verbessert, der Straßenbau vorangetrieben." Sie bezweifelt, dass die Mehrheit gegen ihn ist.

Erdogan ist ein islamisch-konservativer Regierungschef mit neoliberaler Politik. Unter seiner Führung erlebte die Türkei einen nie da gewesenen Wirtschaftsboom. Dieser ist dem Ministerpräsidenten aus Sicht vieler Türken allerdings zu Kopf gestiegen, manche sprechen von "Größenwahn". Die Prachtbauten passen dazu. Dass türkische Stadtplanung vor allem wirtschaftliche Interessen bedient, auch. Symbol dafür ist schon jetzt der Gezipark, diese kleine Großstadtoase, die einem Einkaufszentrum in Form einer osmanischen Kaserne weichen soll.