Tausende Versuchstiere lassen jährlich in Würzburg ihr Leben - für neue OP- und Heilmethoden.
von unserem Redaktionsmitglied Diana Fuchs
Würzburg/ Landkreis Kitzingen — Er hat zwei Hunde, zwei Kaninchen und einen grünen Leguan daheim. Seine Frau ist beim Bund Naturschutz aktiv. Er selbst ist promovierter Zoologe. Dr. Wolfgang Geise ist ein Tierfreund. Und trotzdem hat er einen Beruf gewählt, der ihn immer wieder in eine Grauzone führt - zwischen Tierliebe und medizinischem Fortschritt.
Er ist Tierschutzbeauftragter der Universität und der Uniklinik Würzburg. Seit 18 Jahren bewertet er Tierversuche. Ist ein Versuch nötig? Was wird er bringen? Diese Fragen sind Geises tägliches Brot.
"Es geht nicht ohne" "Es gibt viele grundlegende Missverständnisse beim Thema Tierversuche", sagt der Zoologe in seinem Büro in der Würzburger Marcusstraße. Die größte Fehlinformation sei, dass es generell auch ohne Tierversuche ginge.
"Leider ist das nicht der Fall. Alternative Möglichkeiten - etwa die Forschung an Zellkulturen - werden von den Tierversuchsgegnern heillos überschätzt." Bei den meisten Forschungsprojekten komme irgendwann der Punkt, an dem man im Reagenzglas-Versuch nicht mehr weiterkomme.
Gerade Zellen von Tumoren, von Krankheitserregern oder Immunzellen ändern ihre Eigenschaften laut Geise in Zellkulturen außerhalb des Körpers schon nach wenigen Zellteilungs-Zyklen. Deshalb müsse die beobachtete Reaktion an einem lebenden Gesamtorganismus verifiziert werden. "Und bevor man am Menschen zum Beispiel toxikologische Wirkungen testet, nimmt man dann doch erst einmal ein Tier."
61000 Versuchstiere hat die Regierung von Unterfranken als Aufsichtsbehörde fürs Jahr 2012 am Standort Würzburg verzeichnet - damit ist die Domstadt das achtgrößte Tierversuchszentrum Deutschlands. 80 Prozent der 61000 Tiere sind Mäuse, zwölf Prozent Ratten, der Rest Meerschweinchen, Kaninchen, Fische und auch einige Großtiere wie Ziegen, Schafe und Schweine. An Letzteren werden vor allem neue OP-Methoden getestet, von denen man sich bessere Behandlungserfolge verspricht.
Wie fast überall in Deutschland steigt auch in Würzburg die Zahl der Tierversuche. Warum? Ein großer Schwerpunkt liegt hier laut Dr. Geise auf der medizinischen Forschung, die sich immer stärker verzweige. "Die so genannte Translationale Forschung als Bindeglied zwischen der Grundlagenforschung und der klinischen Anwendung wird immer wichtiger."
Und was kommt bei solchen Forschungsprozessen als Ergebnis heraus? "Das können neue Operations- und Behandlungsmöglichkeiten sein oder auch ein neues Medikament, zum Beispiel gegen Herzschwäche oder Multiple Sklerose."
Wie sehr müssen die Tiere dafür leiden? "Dass Mäuse und Ratten beispielsweise nicht wie daheim in riesigen Terrarien gehalten werden können, ist klar. Das hätten wir zwar auch gern, aber für mehr als die gesetzlichen Vorgaben bekommen wir kein Geld", stellt Geise fest und zeigt auf eine durchsichtige Plastikbox in der Größe eines Schuhkartons. "In so einer Box können fünf bis sieben Mäuse ganz gut leben, sofern man ihnen eine Versteckmöglichkeit und Nistmaterial anbietet." Für die Versuche sei Standardisierung sehr wichtig. "Alle Tiere sollen gleiche Bedingungen haben, alles muss ganz hygienisch sein."
Nur vitale, gesunde Tiere könnten überhaupt für Versuche verwendet werden. "Schon allein deshalb würden wir die Tiere nie schlecht behandeln. Unser Team geht wirklich sehr gut und liebevoll mit ihnen um. Sie leben in einer hellen, freundlichen Umgebung."
Auch weil Tierversuche teuer sind - in Würzburg sind zum Beispiel allein 50 Tierpfleger angestellt -, werden sie laut Geise "nur dann durchgeführt, wenn sie wirklich unumgänglich sind".
Bis zum Ende, bis zum Tod Die Verantwortung des Wissenschaftlers für das im Versuch eingesetzte Tier reicht bis zum Versuchsende. Dann steht in der Regel die Tötung des Versuchstiers an. "Spätestens in diesem Moment muss einem klar werden, dass man hier ein Mitgeschöpf opfert. Und es ist für diese Bewusstwerdung ganz wichtig, den Akt der Tötung nicht auf andere abzuwälzen - etwa auf die Tierpfleger, die täglich mit den Tieren zu tun und deshalb eine echte Beziehung zu ihnen haben", stellt Geise klar.
Für die Tötung des Tieres dürfen nur gesetzlich vorgeschriebene Methoden angewandt werden, damit sichergestellt ist, dass - so Geise - "der Tod schmerzfrei und schnell eintritt". Dann können Organe und Gewebe entnommen werden, um so viele Daten wie möglich für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn aus dem geopferten Tier zu sammeln.
Etwa zwei Anträge für einen Tierversuch landen pro Woche auf Wolfgang Geises Schreibtisch, "meist von Humanmedizinern und Biologen". Geise prüft die Vorhaben eingehend, berät und bezieht Stellung. "Es geht darum, das, was nötig ist, so gut wie möglich zu machen - und so schonend fürs Tier wie möglich." Erst wenn auch die Tierschutzbehörde (Regierung) und die Tierschutzkommission grünes Licht gegeben haben, darf ein Versuch starten.
Geise glaubt, dass die großen Vorbehalte gegen Tierversuche von der Distanz herrühren, die Normalbürger zum Forschungsalltag haben. Wichtige Ergebnisse aus Tierversuchen würden in Fachmagazinen zwar veröffentlicht, "aber der Laie hört nichts davon". In einem Punkt gibt er den Tierversuchsgegnern aber vorbehaltlos Recht: "In die Erforschung von Alternativmethoden wird nicht genug Geld investiert."
Dagegen lässt Geise den Vorwurf, dass viele Menschen gut an Tierversuchen verdienen, so nicht stehen. "Für Wissenschaftler gibt es keine Tierversuchs-Gratifikation oder so. Wenn jemand verdient, dann vielleicht Industrieunternehmen. Die Motivation der Forscher ist der medizinische Fortschritt."
Wolfgang Geise ist sicher: "Kein Wissenschaftler macht Tierversuche gerne. Aber in der Forschung geht es eben noch nicht ohne."
INFO:
Zwischen Tierschutz und Fortschritt
Wolfgang Geise: Jede Tierversuchs-Einrichtung muss seit 1987 einen Tierschutzbeauftragten haben. In der Uniklinik/ Universität Würzburg bewertet der Zoologe Wolfgang Geise jeden geplanten Tierversuch, wie er etwa im Zentrum für Experimentelle Molekulare Medizin (ZEMM, Labor auf dem Klinikgelände) stattfindet.
Tierschutzgesetz: Heute vor genau 80 Jahren trat das erste deutsche Tierschutzgesetz in Kraft. Es wurde mehrmals modifiziert. Tierversuche für Kosmetika sind seit März 2013 in ganz Europa verboten. Erlaubt sind sie jedoch in der Grundlagenforschung und der angewandten medizinischen Forschung. Für bestimmte Belange (Sicherheitsprüfung von Chemikalien) können sie sogar vorgeschrieben sein.
ldk
KOMMENTAR:
von Diana Fuchs
Arme Schweine?
Darf man ein Leben für ein anderes opfern?
Wir alle haben schockierende Bilder im Kopf: von gefesselten, missgestalteten Versuchstieren mit schmerzverzerrten Gesichtern, die einem von Herzen leid tun.
Solche Bilder stimmen mit der Realität nicht überein - zumindest nicht in Würzburg, dem achtgrößten Tierversuchszentrum Deutschlands. 61000 Tiere wurden vergangenes Jahr in der Domstadt geopfert, um schwere Krankheiten zu erforschen und neue OP-Methoden zu testen. Insgesamt "verbraucht" Deutschland pro Jahr 3,1 Millionen Versuchstiere. Man kann kaum glauben, dass so viele Versuche medizinisch wirklich nötig sind.
Einer, der das gut beurteilen kann, ist Dr. Wolfgang Geise, Tierschutzbeauftragter der Universität und der Uniklinik. Er stellt klar, dass es in vielen Fällen einfach noch keine Alternative zu Versuchen am lebenden Organismus gibt. Und: "Tierversuche sind teuer. Schon allein deshalb wird kein überflüssiger Versuch genehmigt."
Die Ratten, Mäuse, Kaninchen, Fische sowie auch einige Ziegen und Schweine in den Würzburger Laboren kann man leider nicht fragen, wie es ihnen ergeht. Einen Blick auf sie werfen darf man - nach vorheriger Genehmigung - aber schon. Zum Beispiel auf die Regalwände, in denen viele Dutzend Plastikboxen neben- und übereinander hängen. Das sind keine Luxusvillen, aber gequält sehen die Nager nicht aus. Sie leben in heller Umgebung und werden von 50 Pflegern gut versorgt - denn nur gesunde, vitale und nicht wesensveränderte Tiere nutzen der Wissenschaft.
Nach dem Besuch bei Geise ist klar: Die Tierversuchs-Diskussion wird nicht sachlich geführt und sie ist auch mit Fehlinformationen behaftet.
Trotzdem bleibt die Frage im Raum stehen: Darf man ein Leben für ein anderes opfern?
Ich weiß es nicht. Aber eins kann ich ausrechnen: In Deutschland leben über 80 Millionen Menschen, die im Durchschnitt 80 Jahre alt werden. Das heißt, dass auf jedes Menschenleben bei uns im Land drei Versuchstiere kommen.
Und wie viel mehr arme Schweine, die auch nie die Sonne gesehen oder im Dreck gewühlt haben, verspeisen wir in 80 Lebensjahren?