Und die Schüler wollen aus diesem System nicht ausbrechen?
Brandenstein: Wenn die Regeln ge- meinsam erarbeitet werden, halten sich die meisten Schüler daran. Der Vorteil für mich als Lehrer: Ich habe viel mehr Freiraum, um mich mit einzelnen Schülern zu beschäftigen.
In Nürnberg laufen die Planungen für die erste demokratische Schule in Franken nach dem Vorbild der Sudbury-Schools. Ist das Ihre Vision der künftigen Schullandschaft?
Brandenstein: Nein, ich begrüße zwar solche Schulversuche, ich bin aber als Gewerkschafter ein Verfechter der staatlichen Schulen. Aber im Moment gleichen diese viel zu oft einem geschlossenen Zwangssystem. Der Unterricht müsste offener, die Schüler mehr einbezogen werden. Der oft willkürliche Lehrplan müsste an die Lebensrealität angepasst werden. In Berlin gibt es Schulen, die haben Fächer wie „Verantwortung“ oder „Herausforderung“ in ihren Fächerkanon aufgenommen.
Das heißt?
Brandenstein: Schüler machen dort im Rahmen dieser Fächer ein mehrwöchiges Praktikum zum Beispiel in Kindergärten, Kliniken oder Altenheimen oder müssen sich mit 150 Euro drei Wochen außerhalb der Stadt durchschlagen.
Klingt abenteuerlich.
Brandenstein: Ist es auch. Eine Gruppe hat eine Radtour durch Schweden gemacht, eine andere ist durch Frankreich gewandert.
Und das bringt mehr als drei Wochen Latein-Vokabeln pauken?
Brandenstein: Davon bin ich überzeugt. Das Ziel von Schule muss doch lauten, junge Menschen zu befähigen, ihr Leben selbstständig zu bewältigen, Entscheidungen zu treffen und Probleme zu lösen. Durch solche Erfahrungen bilden sie ihre Persönlichkeit.
Um bei der Abschlussprüfung zu scheitern?
Brandenstein: Im Gegenteil. Die Studien zeigen, dass die Lernbereitschaft nach solchen Erfahrungen exponentiell ansteigt. Die Ergebnisse in den Abschlussprüfungen waren bei diesen Schülern jedenfalls nicht schlechter als an herkömmlichen Schulen.
Das heißt: Es ist Zeit für eine große Reform?
Brandenstein: Lehrer können das Wort Reform nach den Erfahrungen der letzten Jahre nicht mehr hören. Wir müssen versuchen, die Chancengleichheit in einer gut finanzierten staatlichen Schule zu erhöhen und die Schüler durch Methoden wie selbstständiges Lernen oder Befreiung vom Notendruck zu motivieren. Denn eines ist doch klar: Kinder sind von Natur aus lernbegierig. Diese Lernbegierde geht leider viel zu oft verloren.
Ist es realistisch, dass sich das bayerische Schulsystem in diese Richtung entwickeln wird?
Brandenstein: Kleine Änderungen hin zu einer demokratischeren Schule könnten wir ohne Kosten und ohne große Schwierigkeiten schon jetzt durchsetzen. Große Änderungen sind in der politischen Landschaft in Bayern schwierig. Wenn Sie mich nach einer echten Reform fragen, dann würde ich alle Schulen schließen und „Eine Schule für alle“ bis Klasse 10 öffnen.
Foto: Ralf Dieter
Demokratische Schulen
Die bekanntesten „Demokratischen Schulen“ sind die vom schottischen Pädagogen A.S. Neill 1921 in England gegründete Summerhill-Schule und die seit den 60er Jahren in den USA entstandenen Sudbury Schulen. Sogenannte demokratische Schulen zeichnen sich aus durch selbstbestimmtes Lernen (kein Lehrplan), basisdemokratische Regelung des Schullebens, freiwilligen Unterrichtsbesuch, keine Leistungsbewertung. Weitere Stichpunkte: Schulversammlung, Freiheit von Zeitdruck, Lernen durch Lehren. Alle demokratischen Schulen orientieren sich am Respekt vor den Kindern.
In Deutschland gibt es vier am Sud bury-Konzept orientierte Schulen. Die Sudbury Schule Ammersee ist zur Zeit geschlossen, weil die Regierung von Oberbayern ihr den Unterrichtsbetrieb untersagt hat. Es läuft eine Klage vor dem Verwaltungsgericht. Außerdem haben sich in einigen Städten Vereine gegründet mit dem Ziel demokratische Schulen zu gründen. (z.B. in Nürnberg).