Am Ortsrand von Köslau (Stadt Königsberg) versteckt sich hinter Gebüsch ein Anwesen mit einer besonderen Geschichte. Das Haus hat Bezug zur  Schauspielerdynastie Nicoletti.
                           
          
           
   
          Eine Sisyphusaufgabe, dieser 4000 Quadratmeter große Garten mit  seinem üppigen Baumbestand, dem keltischen Lehrpfad und all den verwunschenen Ecken und Winkeln.  Hartmut Keßler nimmt die Herausforderung gerne an.
 Er liebt das  Obst ebenso wie den seltenen Zürgelbaum oder die Eibe am Haus, die er als seinen Lebensbaum bezeichnet. Mit den wachen Äuglein unter der  großen  Metallbrille und der verblüffend jungen Stimme würde man Keßler seine 78-Jahre kaum zutrauen. Der  drahtige kleine Mann lebt  in seinem grünen Paradies  am Ortsrand von Köslau, das nur in den Wintermonaten sein Geheimnis an den Passanten preisgibt: "Eremitage" lässt sich dann zwischen den laublosen Zweigen am Hausgiebel entziffern. Die Lettern schmücken ein  Fachwerkgebäude, das in seiner Mischung aus fränkischem, Jugend- und  schweizerischem Landhausstil  so gar nicht ins Landschaftsbild passen will. Im  Dorf nennt man es  nur "Die Villa".
 Hier war der Schöngeist zu Hause, Schauspieler und  Theaterleute. Das Haus, so berichtet der heutige Besitzer,  steht in enger Beziehung zur Schauspielerdynastie Nicoletti, deren bekanntester Spross Susi  vor sieben Jahren gestorben ist.   
Jahrzehntelang  diente die Sommerfrische in Köslau den Mimen  als Feriendomizil.  Vermutlich    verbrachte auch die junge Susi Nicoletti hier zumindest einige entspannte Urlaubstage.  
  
   Von Köslau zum Theater Kurz nach 1900:   Johannes Georg Denninger, eines von sieben Kindern des Köslauer Landwirts Johann Wilhelm Denninger und dessen Frau Babette, sollte nach dem Willen des Vaters   Lehrer werden. Weil Königsberg damals noch zum Herzogtum Sachsen-Coburg-Gotha gehörte, wurde Johannes Georg, den alle im Dorf  nur "Schorsch" nannten, in die Vestestadt  zur Schule geschickt.  Dort kam er mit Schauspielern des damaligen herzoglichen Landestheaters in Kontakt, erhielt immer wieder mal  Freikarten und so entbrannte seine Liebe zur Bühne. Zum Entsetzen seines Vaters ließ er den Lehrerberuf sausen, um zum Theater zu gehen. "Er wurde mit Geldentzug bestraft",  erzählt Hartmut Keßler, der viele dieser Familiengeschichten im Gedächtnis gespeichert hat. 
 Denninger blieb dabei. Er wurde Schauspieler und heiratete im Jahr 1906 eine Kollegin aus Graz,  Maria Nicoletti, genannt"Mizzi". Sie war die   Tante  Susi Nicolettis. Mizzi und Schorsch   hatten Engagements an Bühnen in Gotha, Meiningen, Metz, Lodz und  München, wo er später auch als Regisseur und  zuletzt  "Oberregisseur" hinter den Kulissen wirkte. 
  
   Refugium für die warme Zeit Vor 100 Jahren  gab es noch keine Klimaanlagen. Während die Mimen im Winter auf der Bühne standen, hatten sie deshalb im Sommer Spielpause, berichtet Hartmut Keßler, der selbst von Beruf - ganz profan - Diplom-Ingenieur war.  
Um sich einen ruhigen Sommersitz zu schaffen, beschloss das  Schauspieler-Paar, auf einem Acker am Ortsrand von Köslau, der Schorschs Bruder Wilhelm gehörte, ein Haus bauen zu lassen. Den Auftrag erhielt der Albersdorfer Maurermeister Adam Müller. "Das Sommerhaus samt einem 25 Meter tiefen Brunnen kostete damals 4500 Goldmark", weiß Keßler.  Adele Nicoletti, eine Schwester von  Mizzi, steuerte zu den Kosten 500 Mark bei und sicherte sich  ein Wohnrecht im Haus. Ein Raum im Obergeschoss heißt noch heute  "Adeles Zimmer".
 Vor allem Mizzi legte den Garten aufwändig an, pflanzte Obst- und Wildbäume und pflegte die Gemüsebeete, die Wiesen und die Ziersträucher. Hartmut Keßler stolz: "Viele der Sträucher stammen noch aus dieser Zeit." Er erzählt: Mizzi war offenbar sehr beliebt im Dorf und sie freute sich über Besuch in ihrem  Garten. Das Obst der Künstler war bei den Kindern beliebt, und eines  Tages,  als die Bienen im Dorf schwärmten, kamen Buben angerannt und riefen: "Mizzi,    du musst unseren Schwarm einfangen." 
Man darf sich dieses Leben in Köslau  als  Idylle vorstellen.  Die Theaterleute  genossen das "normale" Leben auf dem Dorf, während  sie  Bewerbungen für ihre Engagements im Winter schrieben oder Theaterrollen einstudierten.  Im Schatten der Linde,  wo heute ein Denkmal an  Walther von der Vogelweide erinnert, haben sie Shakespeare und Schiller rezitiert. Für den Winter und die Spielzeit hatte Schorsch, der ab Mitte der 20er Jahre dauerhaft in München  arbeitete, in der Landeshauptstadt eine Wohnung  gemietet. 
 Die Schauspielerehe blieb kinderlos.  1935 erlag Mizzi Nicoletti einer unheilbaren Krankheit und wurde am Münchener Waldfriedhof beigesetzt. Um  ihrem Grab nahe zu bleiben,  wollte ihr Mann  München seither nicht mehr verlassen.  In den Nachkriegswirren 1945/46 ist er laut  Hartmut Keßlers Bericht  in seiner  durch Bomben beschädigten Wohnung an Lungenentzündung  gestorben.
 Nach Mizzis Tod hatte er das Anwesen in Köslau seiner Nichte Anna und  deren Ehemann  Wilhelm Keßler verkauft.  Der neue Besitzer, der Volksschullehrer Wilhelm Keßler, hatte in Westheim und Ermershausen gewirkt und bekam 1937 die Stelle an der einklassigen Volksschule in Köslau zugewiesen. Als die Familie  in die   "Villa" zog, war  der kleine Hartmut  gerade dreieinhalb Jahre alt. 
Lange währte das Familienglück im neuen Zuhause nicht:  Der  Lehrer musste  im  Weltkrieg in Frankreich und ab 1942 in Russland  Dienst an der Front leisten.  1943 ist er  in Stalingrad verschollen. In der Endphase des Krieges, so erinnert sich Hartmut Keßler, suchten Verwandte aus stärker gefährdeten Orten in dem   abseits gelegenen Haus in Köslau Unterschlupf. Von 1946 bis 59 waren zwei Zimmer und die Veranda im Obergeschoss durch eine Familie mit vier Kindern belegt,  Vertriebenen aus Marienbad im Sudetenland. Die Behörden hatten sie dort einquartiert. Keßler wird die beengten Verhältnisse nie vergessen: Die Mutter, er als erwachsener Sohn und seine ebenfalls erwachsene Schwester mussten sich  ein Schlafzimmer teilen. Die Mutter lebte noch bis kurz vor ihrem Tod 1988 in der "Eremitage".
Seit  1997 ist Hartmut Keßler Alleinbesitzer des Anwesens. Nachdem er 1994 in Rente ging, hat er sich dort Stück für Stück seinen Jugendtraum von einem "grünen Paradies"  erfüllt. Stolz ist er   vor allem  auf die Arbeit und  Kreativität, die seine  Frau Irmhilt und er in Haus und  Garten gesteckt haben. 
Keßler, seit einem Jahr  Witwer,  schwärmt von den  Bäumen und Sträuchern, all dem selbst gezogenen Obst und den Beeren, und den naturbelassenen Ecken, "die von Besuchern, je nach Ordnungssinn, teils als verwildert, teils als romantisch empfunden werden." Heute macht er   nur noch das Nötigste im Garten, "was ihm  aber einen gewissen Charme verleiht".
  
  Bibbern im Winter  All die Jahre und manche Umbauten haben nichts daran geändert, dass es in dem Sommerhaus mit seinen dünnen Wänden in der kalten Jahreszeit alles andere als gemütlich ist.  "Eine nachträgliche Wärmedämmung von außen  würde das Fachwerk überdecken und den Reiz des Hauses zerstören", findet  der Rentner: "Wenn man kräftig Holz und Briketts einlegt, kann man mit dem Zentral-Warmluftofen das Wohnzimmer nach etwa sechs Stunden ganz gut warm bekommen." Für die Küche,  das Bad und die  Zimmer im Obergeschoss reicht das indessen nicht.  Wenn die Kinder und Enkel zu Besuch kommen,  bleibt  nur die Maxime: "Kinder,  zieht euch warm an!" Mit Angora-Unterwäsche, Nachtmütze und Wolldecke ließen sich zur Not auch Schlafzimmer-Temperaturen von unter zehn Grad überleben, ohne krank zu werden, findet der Naturmensch. Doch nun sind die  unwirtlichen Monate   zu Ende. Jetzt grünt und blüht es wieder im Garten der "Villa". Die Eber-esche empfiehlt sich als Glücksbringer, die Weide lässt melancholisch die Zweige hängen und die Zypresse verspricht eine Ahnung von Unsterblichkeit.
 Wie  früher die Schauspielerin Mizzi, schwelgt   Hartmut Keßler im Grünen und erfreut sich daran, wenn  die Bewohner Köslaus keine Schwellenangst zeigen.