Nach dem Doppelmord in Halle fragen sich viele, wie es so weit kommen konnte. Der Täter zeigte antisemitische Züge, ein Einzelfall ist das nicht. Experten sagen, die Abneigung gegen Juden ist in der Gesellschaft verankert. Die Regierung will nun reagieren.
Töten will er so viele wie möglich, am liebsten Juden. Schwer bewaffnet versucht Stephan B., eine Synagoge in der sachsen-anhaltinischen Großstadt zu stürmen. Er scheitert am Eingang, mehr als 50 Gläubige kommen mit dem Schrecken davon. Der Täter zieht ab, erschießt eine 40-Jährige und kurz darauf einen 20-Jährigen, ein Ehepaar verletzt er schwer. Das ist gut eine Woche her. Später taucht ein Manifest im Internet auf, das B.s Tat als rechtsextremistisch outet. Ein Einzelfall?
Volksverhetzungen, Sachbeschädigungen, Körperverletzungen, Nötigungen - alleine in Bayern verzeichnete die Polizei im Vorjahr 219 antisemitische Straftaten, zwei Drittel mehr als noch 2017. "Über die Straftaten hinaus gibt es zahlreiche antisemitische Vorfälle", erklärt der Antisemitismus-Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung, Ludwig Spaenle, auf Anfrage. Ein blöder Spruch im Bus, eine unsägliche Schmiererei - das Alltägliche verläuft meist für Außenstehende unbemerkt, unaufgeregt, ganz nebenbei. Doch manchmal bricht sich der Hass gewalttätig Bahn.
"Nicht erst der bewaffnete Angriff in Halle hat bewiesen, dass wir dem Antisemitismus noch stärker als bisher entgegentreten müssen", so Spaenle. Arbeitsgruppen, Präventionsoffensiven, Imagekampagnen - Spaenle, Polizei und Zentralrat der Juden wollen ihr Anliegen ernstnehmen, den antisemitischen Tendenzen im Land entgegenzuwirken. Doch wo ließe sich ansetzen?
Laut Spaenle gebe es hierzulande mindestens vier erkennbare Richtungen des Antisemitismus: Neben kruden Theorien über jüdische Weltverschwörungen und der von der politisch Linken vorgetragenen Israelkritik gebe es eine weite Verbreitung im islamistischen Gedankengut, so Spaenle. Hinzu komme die rechtsextremistische Linie. "Dabei spielen auch politische Brandstifter an der Schwelle zwischen demokratischer und rechtsextremer Partei eine wichtige Rolle."
Auffällig: 198 von den 219 registrierten antisemitischen Taten im Vorjahr konnte das Bayerische Landeskriminalamt der "politischen Kriminalität rechts" zuordnen. Damit scheint der Fall klar, oder? Die Studie "Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland", durchgeführt 2018 an der Uni Bielefeld, liefert ein anderes Bild: "Für einen großen Teil der Beleidigungen und Übergriffe werden muslimische Täter aufgeführt", heißt es.
Statistiken gibt es viele, je nach Methodik variieren die Zahlen. Einheitliche Bilder von Täterkreisen zu zeichnen, geht kaum. Eine präzise Analyse ist wichtig. Ein Beispiel: Unterfranken sticht laut Polizeistatistik in Nordbayern mit höheren Zahlen heraus als andere Bezirke. Ist die Region antisemitischer als andere? Nein. Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, ist Würzburger, weshalb alle Angriffe gegen ihn bei dortigen Dienststellen gemeldet werden.
Einen etwas genaueren Einblick soll die im April gestartete Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (Rias) bringen. Dort können Menschen Vorfälle melden, 96 waren es bisher. Deren politische Hintergründe seien oft nur schwer zu bestimmen. Auch sei es nach der bisher kurzen Zeit schwer, umfassend und regionalisiert Bericht zu erstatten, sagt ein Sprecher der NGO. Aber: "Wir gehen von einer weit größeren Dunkelziffer aus", sagt Rias-Chefin Annette Seidel-Arpaci.