Martin Arieh Rudolph ist Jude. Im Alltag wird der Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg regelmäßig mit Antisemitismus konfrontiert. Nach dem Mordanschlag in Halle ist die Angst noch ein Stück größer geworden.
Martin Arieh Rudolph versucht sich nichts anmerken zu lassen. Entspannt sitzt der 54-Jährige auf der langgezogenen Holzbank. Direkt daneben erhebt sich die Bima, die Bühne, auf der die Tora ausgerollt wird. Durch übermannshohe Fenster fällt fahles Herbstlicht in den Gebetsraum. Die übrigen Plätze der Bamberger Synagoge sind heute leer, erst am Freitagabend werden Gläubige dort den Sabbat empfangen. Glauben. Gott. Religion. Starke Begriffe. Was verbinden Juden damit? Öffentlich sprechen mag kaum jemand darüber. Nicht aus Unwissenheit, nicht aus falscher Scham, nicht aus Eitelkeit. Sondern aus Angst. Halle hallt nach.
"Es gibt genügend Menschen, die uns die Pest an den Hals wünschen. Warum auch immer", sagt Rudolph. Er ist Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg. Zwar müsse man hier nicht unbedingt Angst um sein Leben haben. Auch weil man vorsichtig sei. Ins Gemeindezentrum kommt nicht jeder rein, Kameras registrieren alles und hinter der schweren Eingangstür kontrolliert der Pförtner die Ausweise von Fremden.
"Persönlich angegriffen fühle ich mich hier nicht", sagt Rudolph. Aber auch wenn die Gemeinde zurzeit keine offene und offensive Aggression erlebt, schwebe die Angst ständig mit. Vor allem nach solchen Anschlägen wie in Halle. "Ohne Sicherheitsvorkehrungen geht es nicht", weiß Rudolph. Daher werden Gottesdienste und andere Veranstaltungen stets von der Polizei bewacht. "Halle wäre in Bamberg so sicher nicht passiert", meint Rudolph. Und doch bleibe das Unbehagen, "dass man nie weiß, ob es nicht doch einmal jemand versucht, eine undichte Stelle zu finden."
Immer wieder erzählten ihm seine Mitglieder, dass sie die Kippa oder jüdische Anhänger nicht mehr in der Öffentlichkeit trügen. Teils aus Furcht, als Juden erkannt zu werden, teils auch aus zunehmend säkularem Grundverständnis. Das hat zur Folge, dass die Menschen ihren Glauben nicht offen zur Schau stellen möchten, sondern im Gegenteil eher komplett im Stillen vollziehen. Antisemitismus sei stets spürbar, auch im Alltag. Selbst in Franken, selbst in der Provinz. Ähnliches bestätigen Vorsitzende anderer Gemeinden in der Region. Warum ist das so?
"Viel Arbeit, Judentum nahezubringen"
"Antisemitismus und die moderne Gesellschaft gehören zusammen und sind auf das Engste miteinander verwoben", schrieb der Politikwissenschaftler Samuel Salzborn im Jahr 2010. Und tatsächlich ziehen sich die Vorurteile und der oft daraus resultierende Hass wie ein langer, blutroter Faden durch die Weltgeschichte. "Wir müssen heutzutage niemanden mehr davon überzeugen, dass wir keine Pferdefüße haben. Aber es bedeutet viel Arbeit, den Menschen das Judentum nahezubringen." Auch den Juden selbst.
Wie viele Religionsgemeinschaften in der westlichen Welt leiden auch Juden unter der zunehmenden Abkehr ihrer Gläubigen. 681 Mitglieder hat die liberale Bamberger Gemeinde heute. Zum Quorum an religiösen Personen zählen Männer wie Frauen gleichberechtigt, der Frauenanteil an den Gottesdiensten ist in der Regel höher als der der Männer. Jugendliche gibt es ebenfalls, auch wenn sie oft andere Interessen als Religion haben. Weniger als zehn Prozent aller Gemeindemitglieder kommen in die Synagoge. An regelmäßigen Freitagen und Samstagen legt Rudolph, wenn er selbst den Gottesdienst leitet, seinen Gebetsmantel, den Tallit, um und liest aus der Torarolle. Dichter besetzt sind die Reihen an den hohen Feiertagen, wenn der Rabbiner dauernd in Bamberg ist.
Für Rudolph spielt das jedoch kaum eine Rolle: "Auch wenn es gut ist, wenn die Gemeinschaft zusammen in der Synagoge betet, ist Glaube in vieler Hinsicht etwas Individuelles." Tägliche Gebete verrichte jeder für sich, koscheres Essen sei schon wegen der hohen Kosten nicht für jeden finanzierbar. "Es geht nicht darum, jegliche religiöse Vorschrift peinlich genau zu beachten, sondern dass der Grundkonsens, ein Jude zu sein, gelebt wird."