Zwei Opfer erzählen über ihre drastischen Erfahrungen mit psychischer und physicher Gewalt.
Gewalt hat viele Gesichter. Die Beratungsstelle Frauennotruf in Coburg kennt sie nahezu alle. Nur selten wollen die betroffenen Frauen öffentlich darüber sprechen. Zum Welttag "Keine Gewalt gegen Frauen" erzählen uns zwei Opfer (Namen von der Redaktion geändert) ihre ganz persönlichen Geschichten: voller Schmerz, Leid und andauernder Angst.
Linda K. springt über ihren Schatten, wie sie sagt. Alle drei Wochen kommt sie seit Jahren in die Beratungsstelle. "Ohne die Gespräche mit Karin Burkhardt-Zesewitz würde ich wahrscheinlich gar nicht mehr leben!"
Linda K's Leben ist seit frühester Kindheit von Gewalt gezeichnet: Die Eltern, die sich gegenseitig verprügelten, die Mutter, die Linda mit dem Kochlöffel, dem Kleiderbügel, "mit allem, was sie erwischen konnte" geschlagen hat. Und dann von heute auf morgen verschwunden war. Fünf Jahre lang, in denen Linda dachte, ihre "Mama" sei gestorben.
"Ich war so traurig und später wütend, dass auch ich angefangen habe zu lügen und um mich zu schlagen", erzählt sie.
Doch Linda war ehrgeizig und schlau. Mit Anfang 20 arbeitete sie als Chefsekretärin in verschiedenen großen Betrieben der Region, später auch in München. Sie hatte sich aus dem Teufelskreis befreit, lebte ein selbstständiges, gutes Leben, fuhr einen Sportwagen und bewohnte eine teure Wohnung. Doch das Schicksal holte sie ein.
Nach einer verkorksten Ehe mit einem Amerikaner, traf sie ihre große Liebe. Nach zwei glücklichen Jahren begann ihr Mann, der ein Alkohol- und ein Drogenproblem hatte, sie zu schlagen. Der erste Faustschlag traf sie so überraschend, dass sie es kaum glauben konnte. "Der Schmerz kam mir so vertraut vor. Es war schrecklich!", erinnert sie sich. In den folgenden Jahren durchlitt sie ein wahres Martyrium: Ihr Mann schlug ihr ins Gesicht, riss ihr büschelweise die Haare aus, warf sie in die Wanne und fuchtelte zwei Stunden mit dem Föhn über ihr herum.
"Warum bin ich geblieben?"
Der Höhepunkt seiner Entgleisungen passierte nach einem Drogenexzess: Er rammte ihr ein Messer in den Oberschenkel. Und trotzdem blieb sie bei ihm. Drei Kinder hatten die beiden und eine große Sehnsucht nach einer heilen Familie, wie sie sagt. Erklären kann sie es selbst nicht. Dieses "Warum bin ich geblieben?"
Auch zur Polizei sei sie nie gegangen. Aus Angst, dass er sie tot schlägt. Dafür kam sie regelmäßig mit blauen Flecken und verbundenen Wunden zur Arbeit. Um keine Ausrede verlegen. Mal war ihr der Dosenöffner ausgerutscht, mal eine Schaukel an die Stirn geschlagen.
"Wir lieben uns doch!"
Im vergangenen Jahr ist ihr Mann an Krebs gestorben."Alles Schlechte ist weg. Ich denke nicht mehr an die Schmerzen", sagt sie zu ihrem eigenen Erstaunen. Voller Hingabe besuche sie sein Grab und erinnert sich daran, dass er wenige Monate vor seinem Tod zu ihr sagte: "Wenn einer von uns beiden stirbt, wird sich der andere fragen, warum wir das eigentlich nicht besser hingekriegt haben. Wie lieben uns doch!"
In die Beratungsstelle geht Linda K. immer noch alle drei Wochen. Die Probleme hören nicht auf. Jetzt ist es ihr Sohn, der zuweilen die gleichen Züge trägt wie der Vater. "Richtig geschlagen hat er mich noch nicht, aber was er alles zu mir sagt, geht unter die Gürtellinie. Auch hat er mich schon an den Handgelenken gepackt", erzählt sie. Die Frau spricht ruhig. An Gewalt und Entgleisungen aller Art gewöhnt. "Unterkriegen lässt sie sich nicht", sagt auch die Leiterin der Beratungsstelle. Linda K. ist eine starke Frau.
Obwohl sie zeitlebens die Familie ernährt hat, teilweise mit drei Jobs gleichzeitig, bezieht sie jetzt Hartz IV. Ihr Mann habe ihr eine Insolvenz hinterlassen und der Sohn, dessen Geschäft sie führt, bezahlt ihr keinen Lohn.
Stalking als Folter
Der zweite Fall, der erschüttert, ist die Geschichte von Michaela S. Die 25-jährige Verwaltungsangestellte sitzt auf der Couch in der Beratungsstelle. Auch sie traut sich über ihren Leidensweg zu sprechen. Es sind die vergangenen zwölf Monate, die ihr Leben verändert haben.
Nach einem Jahr in einer glücklichen Beziehung begann ihr Freund im Dezember 2019 zu trinken. Ein Rückfall nach einer Entzugskur. "Er hat sich total verändert, hat mich gemaßregelt und wollte bestimmen, was ich anziehen soll", sagt die junge Frau. Sie trennte sich von ihm, sah keine gemeinsame Zukunft.
Doch damit begann der Horrortrip. Ihr Ex-Partner akzeptierte die Trennung nicht und schrieb fortan Whatsapp-Nachrichten, kontaktierte Michaela über Facebook und Instagram. "Ständig, bis ich alles blockierte - auch die Telefonanrufe!" Doch es nützte alles nichts. Der Mann begann Emails zu schreiben. Nachts zwischen zwei und vier Uhr ploppten sie bei ihr auf. Selbst, wenn sie im Spam-Ordner landeten.
Michaela S. wurde darin beschimpft, sie sei arbeitssüchtig, eine Narzisstin, würde sich von jedem anmachen lassen und arbeite schwarz. Auch ihre Mutter wurde angerufen und angeschrieben. 170 Emails und Briefe erreichten Michaela S..
Bevor sie den Fall bei der Polizei anzeigte, versuchte sie noch über seine Mutter Einfluss nehmen zu können. "Die Eltern sind beide Juristen, er studiert Jura, da wollte ich es zunächst im Guten versuchen", berichtet die 25-Jährige. Vergebens. Die Polizei nahm schließlich den Fall auf und sprach auch ein Aufenthalts- und Kontaktverbot aus.
Doch daran hielt sich der Ex nicht. Michaela S. nahm sich einen Anwalt. Die Beleidigungen und der Ton in den Mails sei immer schlimmer geworden: "Als ,Du widerlicher Unmensch' hat er mich beschimpft."
Gewaltschutzantrag abgelehnt
Der Gewaltschutzantrag, den die junge Frau schließlich beim Familiengericht in Lichtenfels stellte, wurde abgelehnt. Zu diesem Zeitpunkt schaltete sich die Beratungsstelle ein. "Ich versuchte der Familienrichterin die Situation noch mal aus unserer Sicht zu schildern", sagt Karin Burkhardt-Zesewitz. Der Antrag blieb unbearbeitet.
Doch die Staatsanwaltschaft, die in dem Fall ermittelt hatte, brachte ihn zur Anklage. Die Akte umfasste 600 Seiten. Begleitet von einer Mitarbeiterin der Notrufstelle und ihrer mittlerweile zweiten Anwältin, saß Michaela S. im Gericht ihrem Peiniger gegenüber. Er verteidigte sich selbst. Der Richter sprach ihn schuldig. Er bekam vier Monate auf drei Jahre Bewährung, eine Geldstrafe, einen Bewährungshelfer und muss die Kosten des Verfahrens tragen. Gegen das Urteil hat der Mann Berufung eingelegt.
Michaela S. weiß nicht nicht, wann es zu einer endgültigen Entscheidung kommt. Im Moment lässt er sie in Ruhe. Doch wirkliche Abstand findet die junge Frau nicht. "Ich kann mir aktuell nicht vorstellen, einem Fremden jemals wieder zu vertrauen. Ich habe Angst meinen Ex zu treffen und gehe deshalb kaum in die Stadt."
"Gewalt frei" flattert die Fahne im Wind
Am 25.November ist der internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Seit vier Jahrzehnten fordern Frauen an diesem Tag das Recht auf ein Leben ohne Gewalt. Auch in Coburg leisten der Frauennotruf und das Frauenhaus genau das. Sie beraten Betroffene, Bezugspersonen und Fachkräfte, sie unterstützen in Krisen und sorgen für mehr Sicherheit, sie bieten Präventionsangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene an .
Um auch in diesem Jahr auf dieses wichtige Thema aufmerksam zu machen, haben sich das Team des Frauennotrufes und des Frauenhauses Coburg besondere Aktionen überlegt. Zum einen weisen Banner an den Stellwänden der Stadtein- und ausgänge auf dieses besondere Datum hin, zum anderen gibt es eine Statement-Aktion in den sozialen Medien. Außerdem beteiligten sich die beiden Einrichtungen des Vereins "Keine Gewalt gegen Frauen" an der bundesweiten Fahnenaktion von "Terre des Femme". Offene Türen rannten die Veranstalterinnen bei den zuständigen Personen in der Stadt Coburg mit der Bitte um Unterstützung ein. So hisste der Oberbürgermeister am Montag die Flagge zum Internationalen Tag vor dem Rathaus. Ihre Botschaft "Frei Leben ohne Gewalt" weht über den Coburger Marktplatz.