Karten von gestern und das Klima von heute

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Professor Christian Holtorf in der Arktis, Sommer 2015.
Professor Christian Holtorf in der Arktis, Sommer 2015.
Isochrone Karte von Max Eckert, 1909: Wie lange dauert die Reise zu welchem Punkt? Aus: Petermanns Geographische Mitteilungen 1909, Tafel 25; © Universität Erfurt, Forschungsbibliothek Gotha
Isochrone Karte von Max Eckert, 1909: Wie lange dauert die Reise zu welchem Punkt? Aus: Petermanns Geographische Mitteilungen 1909, Tafel 25; © Universität Erfurt, Forschungsbibliothek Gotha
 

Schon vor 100 Jahren verzeichneten Karten, dass das Eis in der Arktis schwand. Der Coburger Professor Christian Holtorf erklärt, warum.

Infranken.de: Herr Professor Holtorf, Sie haben festgestellt, dass schon vor 100 Jahren die Auflösung der geschlossenen Eisdecke der Arktis auf Karten verzeichnet wurde. Stimmt die Geschichte von der Erderwärmung durch den globalen Klimawandel also gar nicht?

Professor Christian Holtorf: Dass wir wissen, dass sich das Ausmaß der Eisfläche seit einigen Jahren verringert, ist nicht nur eine Folge des Klimawandels, sondern auch das Ergebnis wissenschaftlicher Forschungen, die durch Weiterentwicklungen von Messinstrumenten und Abbildungsverfahren, aber auch durch Innovationen im Schiffsbau und schließlich in der Satellitentechnik möglich wurden. Wissenschaftliche Erkenntnis hängt also immer von zweierlei zugleich ab: zum einen von den Gegenständen, die erforscht werden, zum anderen von den Fragen und Methoden, mit denen diese untersucht werden.

Im Falle der Arktis ist auf zahlreichen Landkarten aus dem 19. Jahrhundert zu beobachten, dass sich die scheinbar unveränderliche Eisfläche zunehmend verringert. Neben die vereiste Arktis trat allmählich ein dynamischer Ozean mit Tiefseegräben und Untiefen, mit Winden und Strömungen, mit Eisbewegungen und offenen Wasserstraßen. Die Arktis als einer der letzten unerforschten "weißen Flecken" auf dem Globus gewann auf den Karten mehr und mehr neue Eigenschaften: Rings um den Nordpol wurden Meeresströmungen und Gezeiten, Luftbewegungen und Nordlichter, jahreszeitliche Veränderungen und Klimaschwankungen gemessen und verzeichnet. Vorläufiger Höhepunkt des wissenschaftlichen Fortschritts ist die Möglichkeit, Klimadaten aus mehreren Jahrzehnten miteinander vergleichen zu können. Erst dadurch ist es möglich geworden, langfristige Klimaveränderungen überhaupt festzustellen.

Dass wir heute gewohnt sind, die Erderwärmung durch das Abschmelzen des "ewigen Eises" zu veranschaulichen, ist der Rest einer überholten Vorstellung vom Nordpol als einer erstarrten Natur, deren Auflösung die Erde ins Ungleichgewicht stürzen würde. Doch besteht die Arktis im Wesentlichen aus einem stürmischen Ozean, dessen Eisdecke nur verhältnismäßig dünn und nie ganz geschlossen ist. Auf alten Karten gewinnt diese Erkenntnis lange vor den heutigen Messungen an Gestalt. Dieses neue Bild ist ein Ergebnis des Entstehens neuer wissenschaftlicher Disziplinen wie der Meteorologie, der Ozeanografie und der Kartographie.

Worauf lassen sich denn die Veränderungen der Eisdecke vor über 100 Jahren zurückführen? Gibt es da zeitgenössische Beschreibungen oder neuere Hypothesen?

Die Veränderung der arktischen Eisverhältnisse hat sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts direkt vor den Augen der Öffentlichkeit abgespielt - aber nicht in der Arktis, sondern in den Medien. Der Nordpol war schon deshalb ein Medienprodukt, weil lange Zeit niemand je dort gewesen war. Entsprechend lebhaft waren die Spekulationen und reichten von einem arktischen Magnetberg über einen Schlund ins Erdinnere bin hin zu einem Vulkan mit warmem Polarmeer. Doch auch als später die ersten Entdecker behaupteten, den Pol erreicht zu haben, fiel es ihnen schwer, glaubwürdige Beweise dafür mitzubringen. Denn wie ließ sich das Erreichen eines geometrischen Punktes in einer endlosen Landschaft von ineinander verkeilten schwimmenden Eisschollen dokumentieren?

Im 19. Jahrhundert war der Nordpol ein Kassenschlager in den Tageszeitungen und Illustrierten, vergleichbar etwa mit der Mondlandung im 20. Jahrhundert. Es gab Zeitungen (wie den New York Herald), die eigene Polarexpeditionen ausrüsteten, um ihre Titelseiten mit exklusiven Berichten füllen zu können. Polarabenteurer wurden nach ihrer Rückkehr als Helden gefeiert und tourten mit Vortragsprogrammen durch die großen Städte.
Die meisten Expeditionen erhielten den Auftrag, möglichst weit nach Norden vorzudringen. Was sie nach Hause mitbrachten, waren hochemotionale Berichte, die die lebensfeindliche Fremdheit der Arktis stets von Neuem bestätigten. Es war diese soziale Erwartung an Polarexpeditionen, die schon damals von der Öffentlichkeit, aber auch von Parlamenten und Sponsoren zur Voraussetzung einer Förderung gemacht wurde. Tatsächlich kam der Durchbruch der Arktisforschung jedoch erst, als Frithjof Nansen erkannt hat, dass er mit der Meeresströmung und nicht gegen sie segeln musste, um dem Pol nahe zu kommen. Später konnten Luftschiffe und Flugzeuge eingesetzt werden, um die polare Eisdecke viel bequemer, aber zugleich auch genauer zu erforschen.

Warum war das den Kartografen von damals wichtig? Wer brauchte denn Karten, auf denen diese Veränderungen zu ersehen sind?
Die Kartografie erlebte im 19. Jahrhundert genauso wie andere Medien einen gewaltigen Aufschwung. Immer größere Teile der Bevölkerung hatten eine gute Ausbildung und die ökonomischen Möglichkeiten, am Fortschritt von Wissenschaft und Technik teilzuhaben oder ihn mitzuverfolgen. An vielen Orten wurden Zeitungen gegründet, Presse-Agenturen entstanden, später kam die Fotografie hinzu. Karten waren schon damals - wie alle Veranschaulichungen abstrakter Daten - sehr populär, vor allem dann, wenn sie wissenschaftlich auf dem neuesten Stand, handwerklich gut gemacht und optisch verständlich aufbereitet waren. Dafür stand in Deutschland insbesondere der Gothaer Verlag Justus Perthes, dessen Karten und Atlanten nicht nur beim geografischen Fachpublikum, sondern weit darüber hinaus beispielsweise auch als Lehrmittel in Schulen Absatz fanden.

Die Arktis war ein Schwerpunkt der Kartografie des 19. Jahrhunderts, weil sie als einer der letzten "weißen Flecken" der Kartografie übrig geblieben war. Dramatische Expeditionsverläufe und aufregende Neuentdeckungen hielten das Interesse über Jahrzehnte wach. Dabei belebte auch die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Nationen das Geschäft, denn neben England unternahmen auch die USA, die skandinavischen Länder, Russland, Deutschland und Österreich große Expeditionen, um möglichst als erste den Nordpol zu erreichen. Der Mythos Nordpol wurde dadurch immer fester im öffentlichen Bewusstsein verankert.

Wenn im Mittelalter vermutet wurde, dass der Nordpol eisfrei ist und die Karten entsprechend gezeichnet wurden - was gibt uns heute dann die Gewähr, dass die Karten aus dem 18., 19. oder 20. Jahrhundert hier wirklichkeitsgetreuer sind?
Karten sind keine neutralen Abbilder der Wirklichkeit, sondern sie organisieren und reproduzieren kulturelle Erwartungen und gesellschaftliche Ordnungen. Karten bilden Raum nicht realitätsgenau ab, sondern interpretieren ihn. Denn natürlich unterliegen sie den spezifischen Sichtweisen ihrer Autoren, den ökonomischen Interessen der Verlage, aber auch den technischen Möglichkeiten ihrer jeweiligen Zeit. Karten folgen also verschiedenen subjektiven Wahrnehmungen und sozialen Auswahlprozessen, die auf der Karte selbst nicht mehr nachvollziehbar sind.

Es ist also nicht die Frage, ob eine Karte wirklichkeitsgetreu ist, sondern welche Kriterien für "Wirklichkeit" angelegt werden. Indem Linien gezogen und Farben verwendet, Texte eingefügt und Einzelheiten aufgenommen oder weggelassen werden, verändert sich die Aussage einer Karte, ohne dass sie dadurch falsch oder richtig würde. Es ist tatsächlich bis heute ein großes Problem in den Wissenschaften, dass Bilder sehr schnell als evident angesehen und kaum kritisch analysiert werden. Wir sollten Karten deshalb danach befragen, wer sie angefertigt und publiziert hat, warum ein bestimmter Ausschnitt gewählt wurde und welche handwerklichen Möglichkeiten bestanden haben.

Auch die uns heute vertrauten Karten sind in den Medien oft erfolgreich, vor allem wenn sie anschaulich und bunt sind. Aber sind sie deshalb richtiger als unübersichtliche einfarbige Darstellungen? Ist es nicht bemerkenswert, dass der Klimawandel so häufig mit der abschmelzenden Arktis illustriert wird, obwohl er sich als weltweites Phänomen auch an vielen anderen Orten manifestiert? Wie lässt es sich erklären, dass ein warmes Polarmeer tatsächlich schon im Mittelalter ein verbreitetes Bildmotiv war? (Etwa auf Karten von Gerhard Mercator, siehe anbei.)

Die Wissenschaftsforschung, die ich an der Hochschule Coburg fachlich vertrete, versucht, solche scheinbaren wissenschaftlichen Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Sie bezieht den historischen Kontext, die Entwicklung der Medien, aber auch veränderte Wahrheitskriterien in ihre Analysen mit ein. Ihr Ziel ist es nicht, einfache Antworten zu finden, sondern die Komplexität unserer Bemühungen, die Welt zu verstehen, zu erhöhen.

Sie organisieren eine Tagung über die "Kartographien zeitlicher Dynamik". Was muss man sich als Laie unter einer solchen "Kartographie" vorstellen, wie lange versuchen die Menschen schon, auch zeitliche Veränderungen auf Karten darzustellen, und was sind populäre Beispiele dafür?
Karten repräsentieren Dinge, Zusammenhänge oder Ereignisse auf räumliche Weise: sie stellen etwas nebeneinander oder gegenüber, gliedern auf oder verbinden, grenzen ab oder vereinheitlichen. Doch welche Möglichkeiten haben Karten, dabei auch zeitlich dynamische Prozesse zu berücksichtigen? Wie lassen sich natürliche, politische oder kulturelle Strukturen darstellen, die beweglich und veränderlich sind? Wann stößt das räumlich verfasste Medium Karte dabei an seine Grenzen? Und wie hat sich der Umgang mit Verläufen und Entwicklungen in der Geschichte der Kartographie selbst verändert?

Zeitliche Dynamiken wurden natürlich schon lange auf Karten abgebildet, doch erst seit den 1980er Jahren wird in der Kartografie intensiv über Zeitlichkeit diskutiert. Geografen und Historiker werden sich auf der Tagung deshalb über ihre unterschiedlichen Herangehensweisen an Raum und Zeit austauschen. Diskutiert werden unter anderem Schifffahrtslinien und Fahrpläne des Weltverkehrs, die Abbildung von Wind- und Meeresströmungen im Ozean, das Kartografieren von Reiseverläufen und von wandernden militärischen Fronten sowie städtebauliche Zukunftsentwürfe in Südamerika. Dabei geht es auch um die grafisch-technische Herausforderungen für die Kartengestaltung.

Ein faszinierendes Beispiel für zeitlich orientierte Karten sind Darstellungen, auf denen die Entfernung nicht in Kilometern, sondern nach der schnellsten Reisezeit zwischen zwei Punkten bemessen wird. Diese sogenannte Isochronenkarten sind räumliche Abbildungen von Zeitdauern. Sie zeigen eine Erde, die wir zwar wiedererkennen, die aber doch plötzlich ganz anders aussieht als wir erwarten - obwohl wir im Zeitalter der Transatlantikflüge selbst die Welt mehr oder weniger häufig so erfahren wie sie hier dargestellt wird. .