Stauffenberg-Enkelin: "Mein Großvater war kein Superheld"

Kennengelernt hat Sophie von Bechtolsheim ihren Großvater nicht. Als sie 1968 zur Welt kommt, ist Claus Schenk Graf von Stauffenberg bereits ein knappes Vierteljahrhundert lang tot. Vor allem in den Gesprächen mit ihrer Großmutter Nina, die 2006 im fränkischen Kirchlauter starb, setzt Bechtolsheim sich ihr eigenes Bild von Stauffenberg zusammen.
Ihr Buch "Mein Großvater war kein Attentäter" (Herder Verlag, 142 Seiten, 16 Euro) versteht sich als Einladung, hinter dem Mythos den Menschen Stauffenberg zu entdecken.
Hitler-Attentäter: Wer war Claus Schenk Graf von Stauffenberg?
Nach dem gescheiterten Attentat Ihres Großvaters sollte nach den Willen des NS-Regimes die gesamte Familie Stauffenberg ausgelöscht werden. Begreifen Sie Ihre eigene Existenz als einen Triumph über den Nationalsozialismus?
Sophie von Bechtolsheim: Meine Großmutter Nina empfand ihre große Familie tatsächlich als einen Triumph über die Geschichte. In dem Sinne, dass es dem NS-Regime eben doch nicht gelungen ist, die Familie Stauffenberg auszulöschen. Mir als Mitglied einer jüngeren Generation sind diese Triumphgefühle dagegen fremd. Wie viele Generationsgenossen reibe ich mir stattdessen eher verwundert die Augen, wie viele Menschen das verbrecherische NS-Regime und einen mörderischen Weltkrieg überhaupt überlebt haben.
Empfinden Sie den Namen Stauffenberg als Bürde?
Als ich zwei Jahre lang ein Gymnasium in Bamberg besuchte, war der Name Stauffenberg natürlich sehr präsent. Mein Großvater lebte mit seiner Familie lange in Bamberg, er ist mit der Geschichte der Stadt eng verbunden. Zwei meiner Bamberger Geschichtslehrer fanden es besonders beeindruckend, plötzlich eine Stauffenberg-Enkelin in der Klasse zu haben. Diesen Eindruck hatte ich jedenfalls.
War Ihnen die Bewunderung der Lehrer peinlich?
Mein Großvater und seine Geschichte machte mich in den Augen dieser Lehrer zu etwas Besonderem. Dabei war ich eine gewöhnliche Siebzehnjährige, die eben auch einmal die Schule schwänzte oder bei Klassenarbeiten spickte. "Gerade von Ihnen hätte ich das nicht erwartet", sagten dann die Lehrer.
Spüren Sie als Stauffenberg-Enkelin heute eine besondere gesellschaftspolitische Verantwortung?
Wie jeder Deutsche, habe ich die Verantwortung, mich ernsthaft auch mit den Schattenseiten unserer Geschichte zu befassen. Aber als Enkelin von Stauffenberg habe ich mich tatsächlich besonders verpflichtet gefühlt, dieses Buch zu schreiben, das meinen Großvater als den Menschen zeigt, der er war, ein Buch gerade auch für junge Menschen, die Vorbilder brauchen.
Wie tief in die Attentats- und Umsturzpläne war Ihre Großmutter Nina, die Ehefrau Stauffenbergs, eingeweiht?
Meine Großmutter wusste, dass ihr Ehemann in die Umsturzpläne verwickelt ist. Sie wusste allerdings nicht, wann die Umsturzpläne in die Tat umgesetzt worden sollten.
Wusste Ihre Großmutter, dass es ihr Ehemann ist, der die Bombe zündet?
Nein, das wusste sie nicht. Mein Großvater wollte sie vor diesem Wissen wohl auch schützen. Man nahm ihr bei den anschließenden Verhören tatsächlich ab, von den Plänen ihres Mannes nichts gewusst zu haben. Dass ihr Mann die Bombe gezündet hatte, erfuhr sie am Abend des 21. Juli aus dem Radio.
Hat sie sich von Ihrem Großvater im Stich gelassen gefühlt?
Diese Frage habe ich ihr so ähnlich auch einmal gestellt. Meine Großmutter hat meine Frage nicht einmal verstanden. Sie teilte die Überzeugung ihres Ehemanns, dass Hitler aus dem Weg geräumt werden musste. Und wie viele Frauen jener Zeit hielt sie die Wahrscheinlichkeit ohnehin für gering, dass ihr Mann den Krieg überlebt. Wenn er schon sterben muss, dann für eine gute Sache: So sah das meine Großmutter.
Was in Stauffenbergs Biografie lässt Sie frösteln?
Was seine Taten anbetrifft gibt es nichts, über das ich erschrecken könnte. Es gibt keine Belege dafür, dass mein Großvater je die verbrecherische Ideologie der Nationalsozialisten unterstützt oder auch nur geteilt hätte. Gerade die schändliche Behandlung der Juden hat ihn von Grund auf empört. Das widersprach sowohl seinem Rechtsempfinden als auch seinem christlichen Menschenbild.
Es gibt einen Feldpostbrief aus dem Jahr 1939: Im Zusammenhang mit der polnischen Bevölkerung schrieb Stauffenberg von "unglaublichem Pöbel" und von "Mischvolk", das sich "nur unter der Knute wohlfühlt".
Was er in diesem Brief niedergeschrieben hat, erschreckt mich. Seine Worte und Diktion stoßen mich ab. Aber mein Großvater war ein Kind seiner Zeit. Er schrieb in einer Sprache, die wir uns heute zum Glück abgewöhnt haben. Gerade nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus ist in uns das Bewusstsein gereift, dass grausame Taten mit sprachlichen Herabwürdigungen beginnen. Wir sind für diesen Zusammenhang sensibler, als es mein Großvater war.
In den sozialen Netzwerken ist jeden Tag das Gegenteil zu besichtigen.
Die Sprache scheint sich in der Tat wieder zu radikalisieren. Diese Entwicklung beunruhigt mich.
Am 30. Januar 1933 soll Claus Schenk Graf von Stauffenberg in den Straßen Bambergs die Machtergreifung der Nationalsozialisten bejubelt haben.
Dabei handelt es sich um eine Legende, für die es keinerlei belastbare Belege gibt. Ein Regimentskamerad meines Vaters hat diese Legende in die Welt gesetzt, ein Stauffenberg-Biograf sie später übernommen. Allerdings gibt es keinen einzigen Hinweis dafür, dass es diesen Jubelzug durch die Straßen Bambergs überhaupt gab. Selbst in den Zeitungen findet sich kein Hinweis darauf. Was es in Bamberg an diesem Abend stattdessen stattfand, war ein von der NSDAP organisierter Umzug.
Und daran nahm Stauffenberg teil?
Nein, eine parteipolitische Betätigung war ihm als Offizier der Reichswehr überhaupt nicht erlaubt. Ihm hätte ein Disziplinarverfahren gedroht.
Wie stand Stauffenberg inhaltlich zur Machtergreifung der Nationalsozialisten?
Er war 1933 sicherlich kein Gegner Hitlers. Von meiner Großmutter weiß ich, dass er die ablehnende Einstellung der Nationalsozialisten zum Versailler Vertrag ebenso geteilt hat wie den Wunsch nach einer nationalen Erneuerung.
Warum ist Stauffenberg zum Attentäter geworden?
Er hat sich auf sein Gewissen, seine Verantwortung vor Gott und gegenüber den Menschen berufen. Mein Großvater hatte sich seit jeher in den Dienst der Allgemeinheit gestellt. Er begriff sich als Diener des Volkes. Das war sein Selbstverständnis, das ihn überhaupt erst zum Militär gebracht hat. Dass die Nationalsozialisten im Namen jenes Volkes, dem er dienen wollte, unmenschliche Verbrechen begingen, empörte ihn. Dagegen lehnte er sich auf. Allerdings weise ich es zurück, ihn auf das Attentat zu reduzieren, wie man das kürzlich getan hat, um Aufmerksamkeit zu erregen. Deswegen sage ich: Mein Großvater war kein Attentäter.
Warum nicht?
Unter einem Attentäter verstehen wir heute Menschen, die Terror verbreiten und mit den Mitteln der Gewalt Gemeinschaften erpressen. Das wollte mein Großvater aber gerade nicht. Er wollte Schluss machen mit Terror und Tyrannei.
Wenn Stauffenberg kein Attentäter war: Was war er dann?
Ein Mann, der sich gemeinsam mit Gleichgesinnten zum Tyrannenmord entschieden hat. Der Begriff des Tyrannenmords bringt das Dilemma, vor dem sie standen, auf den Punkt. Sie sahen sich gezwungen, in Hitler einen Tyrannen beseitigen zu müssen. Sie waren sich allerdings auch bewusst, dass sie für dieses Ziel töten mussten.
Was unterscheidet Stauffenberg von Kämpfern des IS, die ebenfalls im Name höherer Ideale töten?
Der IS will Menschen unter das Joch seiner religiösen und ideologischen Überzeugungen zwingen. Den Mitgliedern der Bewegung des 20. Julis ging es um das genaue Gegenteil: Sie wollten die Menschen vom Joch der Tyrannei befreien. Sie setzten sich ein für die Würde des Menschen und das, was sie die "Majestät des Rechts" nannten.
Teile der politischen Rechten berufen sich heute wieder auf ein Recht auf Widerstand.
Das ist eine Instrumentalisierung meines Großvaters, die ich in aller Form zurückweise. Ich wehre mich dagegen, dass sich eine Partei, die selbst mit Rechtsradikalen in ihren Reihen zu kämpfen hat, meinen Großvater für sich vereinnahmt. Artikel 20 des Grundgesetzes spricht im Übrigen tatsächlich jedem Staatsbürger das Recht auf Widerstand zu. Allerdings ist Widerstand nur dann gestattet, wenn die verfassungsmäßige Ordnung auf dem Spiel steht. Mein Eindruck ist, dass die Rechte diese Ordnung eher gefährdet denn beschützt.
Als Stauffenberg an eine neue Ordnung dachte, dachte er da an Rechtsstaat und parlamentarische Demokratie?
Stauffenbergs Wahrnehmung war vom Scheitern der Weimarer Republik geprägt und von der Erfahrung, dass Hitler auf mehr oder weniger demokratischem Weg an die Macht kam. Sein Vertrauen in die Demokratie und die Parteien waren gering. Auch in diesem Punkt war er ein Kind seiner Zeit. Allerdings durchlief mein Großvater einen Lernprozess. Seine Perspektive öffnete sich. Davon zeugt allein schon seine späte Freundschaft mit dem Sozialdemokraten Julius Leber. Mein Großvater hat Leber hoch geschätzt, er hätte ihn als Reichskanzler bevorzugt.
Von Stauffenbergs Weggefährten Henning von Tresckow ist der folgende Satz überliefert: "Der sittliche Wert eines Menschen beginnt erst dort, wo er bereit ist, für seine Überzeugungen das Leben hinzugeben." Hat er recht?
Für uns Zeitgenossen bedeuten diese Zeilen nicht mehr als eine geistige Trockenschwimmübung. Denn wir stehen heute vor keiner vergleichbar existenziellen Herausforderung. Wir haben aus diesem Grund leicht reden. Wie aber würden wir handeln, wenn Meinungs-, Kunst- und Religionsfreiheit tatsächlich bedroht wären? Wären unsere ethischen und religiösen Fundamente stark genug? Diese Fragen stelle ich mir oft.
Wie fällt Ihre Antwort aus?
Ich habe noch keine Antwort gefunden.
Bei allen Widersprüchen: Taugt Stauffenberg uns Gegenwartsmenschen zum Vorbild?
Stauffenberg war kein strahlender Superheld. Er war ein Mensch aus Fleisch und Blut. Er hat sich in vielen Dingen deshalb auch geirrt. Aber er hat Unrecht erkannt, benannt und war entschlossen, dieses Unrecht auch aus der Welt zu schaffen. In dieser verantwortungsbewussten Konsequenz ist mein Großvater sicher auch heute noch ein Vorbild.