Als das Geheimnis um den Inhalt der Kartusche aus der Kirchturmkugel gelüftet wurde, waren viele Reichenbacher dabei. Zum Vorschein kamen viel wertloses Geld und Dokumente von 1927 und 1963.
Kirchenpfleger Gotfried Behr spannte die rund 65 Gemeindemitglieder in der Alten Schule lange auf die Folter. Ehe er sich an die mit Spannung erwartete Öffnung der Kupferkartusche machte, bat er einige Reichenbacher, doch zu versuchen, die kaum leserlich eingekratzten Namen der Spengler zu entziffern, die im Oktober des Jahres 1963 die Zeitkapsel verschlossen hatten. Mit viel Mühe und angestrengtem Augenkneifen gelang es letztendlich, die Schriftzüge zu "chiffrieren". Allerdings konnte mit den Namen niemand etwas anfangen; es waren also keine Einheimischen gewesen.
Überarbeitung ist nötig
Sehr groß war das Interesse der Reichenbacher. Sie wollten es sich nicht entgehen lassen, das Kirchturmkreuz und die Kirchturmkugel einmal aus nächster Nähe zu betrachten. Und vor allem wollten sie sehen, was denn in so einer Kartusche wohl steckt.
Turm, Kugel und Kreuz waren anlässlich der aufwändigen Sanierungs- und Reparaturarbeiten am und im Turm herabgeholt worden, denn auch sie bedürfen gründlicher Überarbeitung.
Ungefährlich ist aber so ein zurückgezogenes Dasein in einer Turmkugel auch nicht gerade, denn sie werden immer wieder das Ziel schießwütiger Zeitgenossen. So wurden bei einer ersten Betrachtung an der Kugel zwar keine Einschusslöcher festgestellt, aber sonderbarerweise ein Ausschussloch. Großes Rätselraten: War da einer drinnen und hat um sich geschossen? Die Lösung: Wahrscheinlich hatte ein Dachdecker bei einer Inspektion des Turmes in der unteren Hälfte der Kugel ein Einschussloch verschlossen, das Ausschussloch auf der oberen Kugelhälfte aber nicht entdeckt.
Mit Spezialzange
Löcher hin oder her: Nun müht sich Gotfried Behr mit einer Spezialzange redlich ab, bis der
Abschlussdeckel sich endlich löste. Neben Dorfbewohnern waren auch Pater Markus Reis und Bürgermeister Helmut Blank Zeugen des historischen Moments - und verfolgten mit Staunen, was da an Zeugnissen aus dem 20. Jahrhundert ans Tageslicht des 21. Jahrhunderts kam. Große, handschriftlich dicht beschriebene Blätter, eine Ausgabe der Zeitschrift "Heimat und Staat" von 1960 - und jede Menge Geld. Abermillionen und Milliarden an aufgedruckten Geldwerten, Geldscheine einer längst vergangenen Epoche, schon damals oft nicht mehr wert als das Papier, auf welches sie gedruckt wurden. Zeugnisse aus der schlimmen Zeit der Inflation zu Beginn der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts und nach einer Kirchturmreparatur am 3. Juli 1927 für die nachkommenden Generationen hinterlegt.
Dieses Datum tragen auch mehrere beiliegende Dokumente, teilweise in Latein oder aber in zwar fein säuberlicher und akkurater Schrift niedergeschriebenen - aber eben halt in der damals gebräuchlichen Deutschen Schrift. Und da tut sich ja heutzutage bei vielen Zeitgenossen ein Problem auf, denn wer kann die noch flüssig lesen. Und so verliefen auch erste Vorlese-Versuche durch Bürgermeister und Stadtpfarrer wenig erfolgreich. Auch die über 80 Jahre alten Reichenbacher kamen nicht sehr weit.
520 Einwohner im Jahr 1963
So machten sich denn Pater Markus und Bürgermeister Blank lieber daran, abwechselnd die im Jahre 1963 eingelegten Schriftstücke zu verlesen, welche zum einen eine ausführliche Beschreibung der Zeitgeschichte von 1927 bis 1963 aufführten, zum anderen über wichtige Daten und Zahlen aus dem Reichenbacher Dorfleben berichteten: Dass zum Beispiel im Jahre 1963
insgesamt 520 Einwohner hier lebten, "davon gehen 150 auf Arbeit, zumeist nach Münnerstadt, Bad Neustadt und Schweinfurt"; dass im Jahre 1948 der Kirchturm eine Uhrenanlage erhielt und dass die zweiklassige Volksschule, die im Jahre 1956 für 57 000 DM umgebaut und erweitert worden war, 1963 von 87 Schülern besucht wird. Lehrer sind Rudolf Fischer und Anita Gäulein.
Weiter war zu erfahren, dass 1956 ein Kindergarten-Neubau für 37 000 DM geschaffen wurde, der Neubau des Feuerwehr-Gerätehauses für 16 000 DM im Jahre 1958 erfolgte und die zentrale Wasserversorgung in den Jahren 1961/ 62 für 326 000 DM ausgebaut wurde.
Ausführliche Kriegsberichte
Ebenfalls 1961 wurde die Straße nach Münnerstadt ausgebaut und erstmals mit einer Teerdecke versehen.
Weiter war zu erfahren, dass 1963 die Flurbereinigung läuft, dabei die meisten Handarbeiten von Frauen erledigt wurden und dass es im Ort 40 Pkw gab, dazu 27 landwirtschaftliche Zugmaschinen.
Sehr ausführlich berichteten die Chronisten über die schweren Zeiten zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg und die Zeit des Nationalsozialismus. Da wurde zum Beispiel vom Artillerie-Beschuss Reichenbachs in den letzten Kriegstagen berichtet, bei dem keine Personenverluste, aber die mehrerer Gebäude, darunter auch "Tanzsaal und Schnapsbrennerei des Gasthaus Zur Linde, Johann Schmitt" erwähnt werden.
Nun müssen die noch unleserlichen Dokumente von Fachleute verständlich dargestellt werden. Denn was im Jahr 1927 geschrieben wurde, ist sicherlich auch für viele Bürger von heute von großem Interesse.