Interview: Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) kommt in den Landkreis und spricht über Demokratie, Haltung, Morddrohungen
Politik braucht Kultur und Kulturschaffende, meinen Yatin Shah und Irina Hönig, die Grünen Kandidaten für Landtag und Bezirkstag aus Hammelburg im Wahlkampf. Und für den haben sie am 31. August Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth nach Langendorf eingeladen. Der Grünen der ersten Stunde geht es aber nicht nur um Künstler, sondern um die Kultur der Demokratie. Dafür setzt sie sich ein, ohne Angst vor persönlichen Anfeindungen. "Du gehörst vergast zusammen mit Mutti und allen, die das deutsche Volk nach Strich und Faden verarschen", solche und ähnliche Hassmails und Morddrohungen erhält die 63-Jährige täglich. Warum sie sich keine Angst machen lässt und warum sie sich so gut an den Hammelburger Hans-Josef Fell erinnert, erzählt sie im Interview mit dieser Zeitung.
Kürzlich hörte ich, wie eine Frau sagte: Ich mag die Roth, weil sie noch den Anstand hat sich aufzuregen. Claudia Roth: Das ist aber ein schönes Kompliment. Und es stimmt. Es gibt derzeit leider ziemlich viele Gründe, sich aufzuregen und zu mobilisieren. Und dabei geht es um mehr als um Wahlkampf. Es geht um unsere Demokratie, den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft - um das, was uns reich und stark gemacht hat.
Nahezu täglich scheint die Demokratie sich wehren zu müssen.
Ja, das stimmt. Wenn ich mir alleine den Vorfall in Sachsen ansehe: Ein TV-Team des ZDF wird angepöbelt und dann an seiner Arbeit gehindert - durch die Polizei. Und der sächsische Ministerpräsident stellt sofort die Seriosität der Journalisten in Frage. Es ist unglaublich, dass hier versucht wurde, Journalismus zu verhindern und es dafür Rückendeckung vom Ministerpräsidenten gibt.
Schön, dass sich Ihnen da die Nackenhaare sträuben. Ja, denn wir müssen uns sehr bewusst machen, was unsere Gesellschaft von jenen unterscheidet, die derzeit durch all die Trumps, Putins oder Erdogans geprägt werden. Denn wenn es keine Meinungs- und Pressefreiheit gibt, wenn unser Grundgesetz wie ein Steinbruch malträtiert wird, wenn wir nicht kapieren, dass wir das für unsere Freiheit brauchen, dann verschwindet etwas ganz wichtiges: unser Wertefundament, das uns zusammenhält. Menschenrechte und demokratische Rechte befinden sich im freien Fall. Und in unseren Debatten hält eine verrohte Sprache Einzug, die nicht nur an Respekt und Sachlichkeit verloren hat, sondern auch Hass und Ausgrenzung schürt. Zu sehen ist das beispielsweise im Asylstreit, den Innenminister Horst Seehofer und Ministerpräsident Markus Söder gegen die Kanzlerin führten. Das wird auch im Ausland wahrgenommen.
Woher wissen Sie das? Ich habe mich kürzlich mit Prinz Said al Hussein, dem noch amtierenden Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen, unterhalten. Der fragte mich "Was bitteschön ist denn bei euch in Bayern los?"
Es genügt also nicht, dass Markus Söder versprach, das Wort "Asyltourismus" nicht mehr zu verwenden? Nein, denn die Politik hinter den Worten verändert sich ja nicht. Ich glaube übrigens auch nicht, dass er damit den Großteil der Bayern erreicht. Diese Menschen sind viel wertebasierter, als es die noch landesregierende Partei glaubt. Die Aufnahmebereitschaft und Solidarität in Bayern hat mich immens beeindruckt. Viele hier im Lande verstehen nicht, warum Menschen, die Hilfe suchen, kriminalisiert oder diskreditiert werden. Aber es gibt auch andere Tendenzen: Rechte und völkische Ideologen befinden sich derzeit im Aufwind, da müssen wir aktiv dagegen halten. Das funktioniert aber nicht dadurch, dass wir ihre Parolen kopieren, denn dadurch stärken wir nur das Original. Der CSU ist nur diese fatale Strategie eingefallen. Sie hat dadurch leider dazu beigetragen, dass die politische Kultur in Bayern massive Schrammen bekommen hat. Doch der Zweck heiligt nicht jedes Mittel - auch eine Landtagswahl nicht.