Am Donnerstagabend wies der österreichische Plagiatssucher Stefan Weber dann auch noch auf Übereinstimmungen zwischen der Dissertation Brosius-Gersdorfs und der Habilitationsschrift ihres Ehemanns hin. Auf Nachfrage sagte er der Deutschen Presse-Agentur, er habe die Prüfung ohne Auftraggeber vorgenommen. Durch die Veröffentlichung kam aber eine neue Dynamik in die Debatte. Die Union drohte der SPD mit Enthaltung. Schließlich einigte man sich in der Koalition auf Absetzung der Richterwahlen.
SPD spricht von «Hetzjagd» auf Staatsrechtlerin
Wiese sprach anschließend von einer Beschädigung des Bundesverfassungsgerichts und einer «Hetzjagd» gegen die «hochangesehene Juristin» Brosius-Gersdorf. Auch Klingbeil nahm sie gegen die Angriffe aus der Union in Schutz. Die Gleichheit der Geschlechter und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen hätten in Deutschland zu Recht Verfassungsrang. «Das zu schützen ist übrigens Aufgabe von Richterinnen und Richtern, erst recht am Bundesverfassungsgericht.»
Opposition: «Absoluter Skandal» und «absolute Instabilität»
Die Opposition wertete die Absetzung der Richterwahlen als Desaster für Schwarz-Rot. Die Linksfraktionschefin Heidi Reichinnek sprach von einem «absoluten Skandal», der Linken-Politiker Dietmar Bartsch von einem «Chaos ohnegleichen». Der AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann warf der Regierung «absolute Instabilität» vor.
Die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann sprach von einem «schlechten Tag für das Parlament, für die Demokratie und für das Bundesverfassungsgericht». Die Schuld dafür wies sie klar dem CDU-Politiker Spahn zu: «Es ist Ihre Unfähigkeit als Fraktionsvorsitzender.»
Merz wollte eigentlich keinen öffentlichen Streit
Der Unionsfraktionschef steht seit Wochen wegen der Affäre um die Beschaffung von Corona-Masken in seiner Zeit als Gesundheitsminister unter Druck. Nun wird ihm vorgeworfen, dass er den Widerstand in seiner eigenen Fraktion gegen Brosius-Gersdorf unterschätzt hat.
Nach der Auseinandersetzung über die Stromsteuersenkung für alle ist es das zweite Mal, dass es zu offenem Streit in der Koalition kommt - in nur gut zwei Monaten Regierungszeit. Dabei hatte sich Kanzler Friedrich Merz (CDU) eine Koalition ohne öffentlichen Streit zum Ziel gesetzt - im Gegensatz zur Vorgängerregierung von SPD, Grünen und FDP, die letztlich am Dauerzoff zerbrochen ist.
Kanzler hat Entscheidung der Fraktion überlassen
Aus der öffentlichen Diskussion über die Richterwahl hatte er sich weitgehend herausgehalten. Es sei «Sache der Bundestagsfraktion, darüber zu entscheiden, wie die Wahl am Freitag stattfindet», hatte er am Dienstag gesagt. Als Kanzler habe er dazu keine persönliche Meinung öffentlich vorzutragen.
Spahn hob in einer Sondersitzung der CDU/CSU-Fraktion das Interesse der Union an einem stabilen Bündnis mit der SPD hervor. Man habe in den vergangenen Wochen Stabilität gezeigt, sagte der CDU-Politiker nach Angaben von Teilnehmern. «Das bleibt der Auftrag.» CSU-Landesgruppenchef Alexander Hoffmann sagte, innerhalb der Koalition würden nun Gespräche darüber geführt, «wie eine Wahl von Verfassungsrichtern im Bundestag gelingen kann».
Bundesrat könnte ins Spiel kommen
Ein Lösungsansatz zeichnete sich zunächst aber nicht ab. Unmittelbaren Zeitdruck bei der Nachbesetzung der frei werdenden Richterstellen gibt es nicht. Je nach zu besetzender Richterstelle gelten unterschiedliche Fristen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt können die Länder im Bundesrat anstelle des Bundestags die Nachfolger wählen - sie müssen es aber nicht, genauso gut kann weiter der Bundestag entscheiden.