Gabriele Engel leidet an der seltenen Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Ihr Ehemann spricht offen über irritierte Blicke und Stigmatisierung mancher Menschen und richtet deutliche Worte an sie.
Von der unheilbaren Krankheit Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) sind in Deutschland mehr Menschen betroffen, als viele annehmen. inFranken.de berichtete erst vor Kurzem vom Schicksal der ALS-Patientin Claudia Albreit aus Nürnberg. Das Leben der zweifachen Mutter und ihrer Familie hat sich 2023 komplett verändert. Die 47-Jährige ist mittlerweile auf dauerhafte Pflege angewiesen. Und so geht es vielen ALS-Patienten.
Thomas Engel greift zu einem ungewöhnlichen Hilfsmittel, um seine Ehefrau Gabriele ins Wasser des Riemer Sees zu bringen. Er setzt die 55-Jährige in eine faltbare Schubkarre. Mit Schwimmnudeln aus Schaumstoff und der Unterstützung ihres Mannes kann sie an der Oberfläche des Sees treiben, der unweit ihrer Wohnung im Münchner Osten liegt. Gabriele Engel ist unfähig, die meisten ihrer Muskeln zu bewegen. Doch auch alltägliche Situationen können für unangenehme Momente sorgen, wenn andere Menschen wenig Verständnis zeigen, wofür Thomas Engel jedoch klare Worte findet.
Lähmung und kurze Überlebensaussicht: So kann sich ALS äußern
ALS hat die Nerven der Bayerin zerstört, die die Muskelbewegungen steuern. Auch ihre Zunge ist gelähmt. Ihre Tätigkeit als Beamtin im höheren Dienst musste sie bereits vor längerer Zeit aufgeben. Sie benutzt einen Computer, der Augenbewegungen in Sprache umwandelt, um ihre Erinnerung an den Badeausflug zu formulieren: "Wir genießen die schönsten Momente."
Der Medizinprofessor Paul Lingor vom Klinikum rechts der Isar der TU München kennt viele Patienten, bei denen die Krankheit ähnlich wie bei Gabriele Engel verläuft. Es gibt nahezu vollständig gelähmte ALS-Patienten, die mit Augensteuerung sogar noch eingeschränkt arbeitsfähig sind. "Wenn es um geistige Leistungen geht, ist vieles möglich", erklärt Lingor. Und er ist zuversichtlich, dass viele Patienten ihr Leben als lebenswert betrachten. Aber Lingor fügt auch hinzu: Kranke wie der weltbekannte Physiker Stephen Hawking, der rund ein halbes Jahrhundert mit der ALS-Diagnose lebte, bevor er im Alter von 76 Jahren starb, sind eine seltene Ausnahme.
"Die durchschnittliche Lebenserwartung beträgt drei bis fünf Jahre nach Symptombeginn", erklärt Lingor. Es gibt keine gut wirksamen Medikamente, die die Krankheit aufhalten oder heilen könnten. Nicht einmal die Ursachen von ALS sind in der Wissenschaft wirklich verstanden. Der Forscher und Arzt ist überzeugt: "Man könnte die Lebensqualität von ALS-Patienten deutlich verbessern, wenn man mehr Ressourcen in die Forschung und auch in die Versorgung stecken würde." Und Lingor betont: ALS ist selten, aber nicht so selten, wie viele Menschen denken. Über die Lebenszeit hinweg erkrankt laut Lingor in Deutschland einer von 400 Einwohnern an der tödlichen Lähmung.
Unschöne Erfahrungen in Restaurant - Ehemann findet deutliche Worte
Vor zehn Jahren gab es für einige Wochen zwar eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit für die Krankheit, erinnert sich Lingor. Damals ging von den USA aus die sogenannte "Ice-Bucket-Challenge" um die Welt: Gesunde sollten sich einen Kübel Eiswasser über den Körper schütten und möglichst Aufnahmen davon im Internet verbreiten. Auch Geld sollte gespendet werden. Doch nach dieser Aktion flaute die Aufmerksamkeit für ALS wieder ab und nach Lingors Einschätzung auch das Spendenaufkommen etwa für Selbsthilfegruppen.
Der Mediziner erlebt auch immer wieder, dass Patienten ausgegrenzt werden. Menschen, die sich nicht mehr alleine anziehen oder nur mit Hilfe essen können, machen Erfahrungen, "die extrem stigmatisierend sind", weiß er. Auch Thomas Engel berichtet von irritierten Blicken, wenn er mit seiner am ganzen Körper gelähmten Frau im Rollstuhl in einem Restaurant ist. Es kommt vor, dass ihr Essen aus dem Mund fällt oder Speichel die Wange herunterläuft. Er wischt es dann ab, sagt Engel. "Wer sich davor ekelt, muss sich eben woandershin setzen", stellt er klar.