Russische Invasion in der Ukraine: Das sagen Experten zur aktuellen Lage

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Ukraine-Krieg
Die Lage in der Ukraine mit Stand 1.3.2022 (15 Uhr)
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ISW / inFranken.de
Russlands Taktik: So will Russland Kiew einnehmen
Die wichtigsten russischen Manövrierachsen.
Russlands Taktik: So will Russland Kiew einnehmen
Institute for the study of war

Die Lage in den umkämpften Gebieten in der Ukraine ist weiterhin nicht ganz klar. Während Russland Erfolge an einigen Stellen für sich beansprucht, widerspricht die ukrainische Seite. Das sagen Experten über die aktuelle Lage.

  • Ukraine-Krieg: Russland versucht weiter, Kiew einzunehmen
  • An vier Fronten wird hauptsächlich gekämpft
  • Russland greift weiter aus drei Richtungen an
  • Experten sind sich sicher: Die russische Offensive wird in den nächsten 24 bis 48 Stunden wieder intensiver werden

Das russische Militär muss seine Strategie neu planen – der ukrainische Widerstand hat die russische Invasion stärker behindert, als sie angenommen haben. Forscher des "Institute for the study of war" sind der Meinung: Die russischen Anstrengungen werden vor allem in den nächsten 24 bis 72 Stunden zunehmen. Das sind ihre Einschätzungen der taktischen Lage. (Stand: 1. März, 15 Uhr)

Russlands Offensive weiter Hauptziel, Kiew einzukesseln

Die Expert*innen des "Institute for the study of war", Frederick W. Kagan, George Barros und Kateryna Stepanenko, haben am Dienstag die Lage wie folgt beschrieben: Die russischen Kräfte sind dabei sich neu zu gruppieren und zu verstärken. Nachdem sie ihren Nachschub aufgestockt haben, werden sie weiter versuchen, Kiew zu umzingeln.

Zu diesem Zweck stoßen die Truppen des Kreml im Westen vor, aber auch östlich von Kiew entlang der Achse Chernihiw-Sumy. Der russische Militärkonvoi, der sich seit Dienstag auf Kiew zubewegte und teilweise eine Länge von 65 km hatte, dient laut den Expert*innen dazu, die Bemühungen der Einkesselung im Weste von Kiew zu unterstützen. Die Städte Sumy, Lebedyn und Ochtyrka sind eingekesselt und sind teilweise unter schwerem Beschuss. Allerdings haben russische Truppen an dieser Stelle nur wenige Fortschritte gemacht, bisher. 

Die Militärexpert*innen halten es für wahrscheinlicher, dass der Fokus auf dieser Operation liegt, als auf den direkten Angriffen, die von russischen Kräften weiter in den nordwestlichen Vororten Kiews vorgetragen werden. Die Expertenmeinungen sind uneins darüber, ob die russische Offensivkraft genügt, um eine Umzingelung Kiews zu vollenden und eine Einkesselung gegen ukrainische Gegenangriffe aufrechtzuerhalten.

Cherson, Mariupol, Charkiw: Die Lage im Osten und Süden der Ukraine

Auf Charkiw, zweitgrößte Stadt in der Ukraine, hat es am Dienstag weiter schwere Angriffe mit Artillerie und Raketenbeschuss gegeben. Dies ist nach Einschätzung der Expert*innen Vorbereitung für erneute Angriffe der Bodentruppen in den kommenden 24 Stunden. Es ist wohl davon auszugehen, dass am Mittwoch und Donnerstag weitere Frontalangriffe aus dem Nordosten stattfinden werden anstatt eines Einkesselungsversuchs. 

Die Lage in Cherson und Mariupol ist weiter unklar. Russland behauptet, Mariupol am Asowschen Meer eingekesselt zu haben und russische Truppen wurden auch bereits in der Stadt gesichtet. Der ukrainische Generalstab verkündete am Dienstag, dass russische Angriffe auf die Stadt abgewiesen worden seien. Es ist schwer einzuschätzen, wie genau die Lage in und um Mariupol ist. Klar ist aber, dass die russischen Truppen sich weiter bemühen werden, auch durch die Sicherung der Stadt Mariupol eine Landbrücke zwischen Rostow am Don und der Halbinsel Krim herzustellen. Hier nimmt Mariupol eine wichtige strategische Stellung ein. 

Mehrere, voneinander unabhängige Berichte sprechen davon, dass russische Truppen die Innenstadt von Cherson betreten haben. Wenn es den Truppen des Kreml gelingt, Cherson vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen, wäre dies ein großer Schritt für die russischen Kräfte in Richtung Mykolajiw und Odessa am Schwarzen Meer. Expert*innen gehen davon aus, dass die ukrainische Armee die Kontrolle über Cherson am Mittwoch oder Donnerstag verlieren wird. 

Insgesamt ziehen die Autor*innen des ISW das Fazit, dass es zum jetzigen Zeitpunkt schwer ist, abzuschätzen, ob die russische Armee ihre gesteckten Ziele erreichen kann, bzw., ob die Ukraine ihre Verteidigungsbemühungen erfolgreich aufrechterhalten kann. Klar ist jedenfalls laut den Expert*innen, dass die russische Invasion weiterhin unter der schlechten Organisation im Vorfeld und in den ersten Stunden und Tagen der Offensive leidet. Zwar würden sich die Operationen in den kommenden Tagen beschleunigen und womöglich effektiver werden, allerdings bleibt gerade der Hauptangriff rund um Kiew laut Einschätzung des ISW weiter schlecht organisiert. Viele russische Battalione seien zu ad-hoc-Verbänden zusammengewürfelt, anstatt unter einer koordinierten Führung eines Regiments- oder Brigade-Hauptquartiers zu stehen. 

Auch interessant: 

Lage am 28.02.2022: Russlands Offensivkampagne: Kiew von Norden und Westen umzingeln

Die Kriegsexpert*innen Mason Clark, George Barros und Kateryna Stepanenko erklären in einem Artikel, welchen sie am 28. Februar 2022 veröffentlichten, wie die russische Offensive weitergehen wird. Bereits am Dienstagmorgen (01. März 2022) ist ein 65 kilometerlanger Konvoi des russischen Militärs vor Kiew gemeldet worden, was ihre These bestätigt, dass die russische Offensive verstärkt weitergehen wird.

Drei Tage lang hat Russlands Armee versucht, Kiew zu erobern - doch ohne Erfolg. Seit Montagmorgen (28. Februar 2022) versucht das Militär die Hauptstadt zu flankieren und einen Belagerungsring von etwa 70 Kilometer Durchmesser um die Stadt zu errichten. Außerdem stießen russische Truppen bei der Stadt Makariw in Richtung Autobahn E10 vor. Die Stadt ist 40 Kilometer westlich von Kiew und verbindet die ukrainische Hauptstadt mit dem Westen der Ukraine. Über diesen Weg flüchten Menschen nach Westen. Es kommen zudem Waffen aus Nato-Ländern über die E10 nach Kiew.

Das ukrainische Militär bestätigt die russischen Angriffe auf Makariw. "Für viele russische Besatzer war die heutige Nacht bei Makariw die letzte“, schreiben sie auf Twitter. Laut Bild.de meldeten Augenzeugen jedoch, dass bis zu 90 russische Armeefahrzeuge die Stadt eingenommen hätten. Russische Medien berichten, sie haben einen "sicheren Korridor" für Zivilisten aus Kiew geöffnet. 

Das russische Militär hat weiterhin begonnen, Flächenangriffswaffen in der Stadt Charkiw einzusetzen, was den Schaden an der zivilen Infrastruktur und die Zahl der zivilen Opfer dramatisch erhöht hat, wie Kriegsexpert*innen berichten. Russland setzt Rohr- und Raketenartillerie gegen Charkiw ein, und unbestätigten Berichten zufolge setzt sie auch thermobare Waffen ein, die verheerende Auswirkungen haben können, insbesondere auf zivile Ziele. Der ukrainische Widerstand in und um Charkiw bleibt entschlossen, aber es ist unklar, wie lange die ukrainischen Verteidiger standhalten können.

Russlands Taktik: Nächste offensive Schritte dauern die nächsten 48 bis 72 Stunden an

Die Forscher*innen des "Institute for the study of war" sind sich sicher: "Die nächste große Phase der russischen Offensivoperationen wird wahrscheinlich innerhalb der nächsten 24 Stunden beginnen und sich in den darauffolgenden 48 bis 72 Stunden abspielen."

Der ukrainische Widerstand bleibt bemerkenswert effektiv, und die russischen Operationen, vor allem auf der Kiewer Achse, wurden schlecht koordiniert und durchgeführt, was zu erheblichen russischen Fehlschlägen auf dieser Achse und in Charkiv führte. Die russischen Streitkräfte sind jedoch nach wie vor viel größer und leistungsfähiger als das konventionelle Militär der Ukraine. Die russischen Vorstöße in der Südukraine drohen, die Verteidigung von Kiew und der Nordostukraine aus den Fugen zu bringen, wenn sie unkontrolliert fortgesetzt werden.

Russische Streitkräfte griffen am 28. Februar verstärkt ukrainische Flugplätze und Logistikzentren an, besonders in der Westukraine. Russland versucht wahrscheinlich, die ukrainische Luftwaffe am Boden zu lassen und die Fähigkeit westlicher Staaten zu unterbinden, das ukrainische Militär zu versorgen. Russische Bodentruppen rücken laut Experten auf diesen vier Hauptachsen vor: Kiew; Nordostfront; Donbass und Mariupol; und Krim-Kherson.