Mehrere, voneinander unabhängige Berichte sprechen davon, dass russische Truppen die Innenstadt von Cherson betreten haben. Wenn es den Truppen des Kreml gelingt, Cherson vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen, wäre dies ein großer Schritt für die russischen Kräfte in Richtung Mykolajiw und Odessa am Schwarzen Meer. Expert*innen gehen davon aus, dass die ukrainische Armee die Kontrolle über Cherson am Mittwoch oder Donnerstag verlieren wird.
Insgesamt ziehen die Autor*innen des ISW das Fazit, dass es zum jetzigen Zeitpunkt schwer ist, abzuschätzen, ob die russische Armee ihre gesteckten Ziele erreichen kann, bzw., ob die Ukraine ihre Verteidigungsbemühungen erfolgreich aufrechterhalten kann. Klar ist jedenfalls laut den Expert*innen, dass die russische Invasion weiterhin unter der schlechten Organisation im Vorfeld und in den ersten Stunden und Tagen der Offensive leidet. Zwar würden sich die Operationen in den kommenden Tagen beschleunigen und womöglich effektiver werden, allerdings bleibt gerade der Hauptangriff rund um Kiew laut Einschätzung des ISW weiter schlecht organisiert. Viele russische Battalione seien zu ad-hoc-Verbänden zusammengewürfelt, anstatt unter einer koordinierten Führung eines Regiments- oder Brigade-Hauptquartiers zu stehen.
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Lage am 28.02.2022: Russlands Offensivkampagne: Kiew von Norden und Westen umzingeln
Die Kriegsexpert*innen Mason Clark, George Barros und Kateryna Stepanenko erklären in einem Artikel, welchen sie am 28. Februar 2022 veröffentlichten, wie die russische Offensive weitergehen wird. Bereits am Dienstagmorgen (01. März 2022) ist ein 65 kilometerlanger Konvoi des russischen Militärs vor Kiew gemeldet worden, was ihre These bestätigt, dass die russische Offensive verstärkt weitergehen wird.
Drei Tage lang hat Russlands Armee versucht, Kiew zu erobern - doch ohne Erfolg. Seit Montagmorgen (28. Februar 2022) versucht das Militär die Hauptstadt zu flankieren und einen Belagerungsring von etwa 70 Kilometer Durchmesser um die Stadt zu errichten. Außerdem stießen russische Truppen bei der Stadt Makariw in Richtung Autobahn E10 vor. Die Stadt ist 40 Kilometer westlich von Kiew und verbindet die ukrainische Hauptstadt mit dem Westen der Ukraine. Über diesen Weg flüchten Menschen nach Westen. Es kommen zudem Waffen aus Nato-Ländern über die E10 nach Kiew.
Das ukrainische Militär bestätigt die russischen Angriffe auf Makariw. "Für viele russische Besatzer war die heutige Nacht bei Makariw die letzte“, schreiben sie auf Twitter. Laut Bild.de meldeten Augenzeugen jedoch, dass bis zu 90 russische Armeefahrzeuge die Stadt eingenommen hätten. Russische Medien berichten, sie haben einen "sicheren Korridor" für Zivilisten aus Kiew geöffnet.
Das russische Militär hat weiterhin begonnen, Flächenangriffswaffen in der Stadt Charkiw einzusetzen, was den Schaden an der zivilen Infrastruktur und die Zahl der zivilen Opfer dramatisch erhöht hat, wie Kriegsexpert*innen berichten. Russland setzt Rohr- und Raketenartillerie gegen Charkiw ein, und unbestätigten Berichten zufolge setzt sie auch thermobare Waffen ein, die verheerende Auswirkungen haben können, insbesondere auf zivile Ziele. Der ukrainische Widerstand in und um Charkiw bleibt entschlossen, aber es ist unklar, wie lange die ukrainischen Verteidiger standhalten können.
Russlands Taktik: Nächste offensive Schritte dauern die nächsten 48 bis 72 Stunden an
Die Forscher*innen des "Institute for the study of war" sind sich sicher: "Die nächste große Phase der russischen Offensivoperationen wird wahrscheinlich innerhalb der nächsten 24 Stunden beginnen und sich in den darauffolgenden 48 bis 72 Stunden abspielen."
Der ukrainische Widerstand bleibt bemerkenswert effektiv, und die russischen Operationen, vor allem auf der Kiewer Achse, wurden schlecht koordiniert und durchgeführt, was zu erheblichen russischen Fehlschlägen auf dieser Achse und in Charkiv führte. Die russischen Streitkräfte sind jedoch nach wie vor viel größer und leistungsfähiger als das konventionelle Militär der Ukraine. Die russischen Vorstöße in der Südukraine drohen, die Verteidigung von Kiew und der Nordostukraine aus den Fugen zu bringen, wenn sie unkontrolliert fortgesetzt werden.
Russische Streitkräfte griffen am 28. Februar verstärkt ukrainische Flugplätze und Logistikzentren an, besonders in der Westukraine. Russland versucht wahrscheinlich, die ukrainische Luftwaffe am Boden zu lassen und die Fähigkeit westlicher Staaten zu unterbinden, das ukrainische Militär zu versorgen. Russische Bodentruppen rücken laut Experten auf diesen vier Hauptachsen vor: Kiew; Nordostfront; Donbass und Mariupol; und Krim-Kherson.