Mode und Verzweiflung: Nora Gomringer liest in Bambergers Stadtbücherei

2 Min
Nora Gomringer in der Bamberger Stadtbücherei Foto: Matthias Hoch
Nora Gomringer in der Bamberger Stadtbücherei  Foto: Matthias Hoch

Der Ruf eines Wunderkinds eilt ihr auch mit 38 Jahren noch voraus. Nora Gomringer weiß, was sie kann und wie sehr die Menschen sie verehren.

Andere Dichter wären vor Scham errötet und hätten hilflos eine Entschuldigung in Richtung des Publikums gestammelt. Nora Gomringer dagegen weiß selbst noch aus einem Texthänger unterhaltsame Funken zu schlagen.

Lächerlich, wie der untreu gewordene Freund seiner neuen Flamme einen Tisch zimmert und liebestrunken Holzbretter über die Straße schleppt: "Oh, wow. Jetzt habe ich den Text vergessen. Das passiert mir sonst nie." Nora Gomringer errötete nicht und peinlich berührt schien sie ebenso wenig. Sie lachte, und fast schon erleichtert lachte das Publikum des Bamberger Literaturfestivals (BamLit) mit.

Es wäre Gomringer allemal zuzutrauen, das temporäre Vergessen des Textes lediglich inszeniert zu haben. Weil der so selbstbewusst wie selbstironisch moderierte Texthänger die emotionale Tiefe ihres vor Eifersucht bebenden Gedichts auf bezaubernde Weise konterkarierte. Vor allen aber, weil auch Nora Gomringer nicht verborgen geblieben sein konnte, mit wie viel Ehrfurcht das Publikum in der Bamberger Stadtbücherei ihr am Freitagabend begegnete. Sogar den Applaus versagten sich die Besucher lange Zeit. So, als wollten sie Gomringer mit einer dumpfen Verrichtung wie dem Klatschen bloß nicht behelligen.

An einer kunstreligiösen Verklärung ihrer Person aber, das darf ihr getrost unterstellt werden, hegt Nora Gomringer nicht das geringste Interesse. Um dem Publikum die Ehrfurcht auszutreiben, wäre ein vorsätzlich in den Vortrag eingebauter Texthänger deshalb nicht das schlechteste Stilmittel.


Biografische Leitmotive

Auftritt Nora Gomringer: Pumps im Leopardenmuster, blau-schwarz karierter Rock, schwarze Bluse, Brosche. Eine Erscheinung.
Der Ruf eines Wunderkinds eilt ihr auch mit 38 Jahren noch voraus. Gomringer weiß, was sie kann und wie sehr die Menschen sie für ihre Kunst verehren: "Zwischen Goethe und Heine steht in den Regalen der Buchhandlungen Gomringer", sagte sie in der Stadtbücherei. Natürlich brach sie ihrer gewitzten Selbstverortung im Kanon der deutschen Literaturgeschichte schon im nächsten Atemzug ironisch die Spitze: "Da bin ich namentlich natürlich sehr begünstigt." Gelächter im Publikum.

Am Freitag rezitierte sie ihre eigenen Werke nicht nur, Gomringer interpretierte sie darüber hinaus auch. Sie erläuterte dem Publikum lyrische Formprinzipien, biografische Hintergründe und Leitmotive ihrer Arbeit. Ein solch beständig wiederkehrendes Motiv ist der Holocaust.

Ins Zentrums ihres Auftritts gerückt hatte sie die Trilogie aus den Bänden "Monster Poems", "Morbus" und "Moden". In Letzterem legt es Gomringer keineswegs auf die moralinsaure Entlarvung der Mode als banales Oberflächenphänomen an. Für diesen kulturkritischen Exzess ist sie auch selbst viel zu ausgesucht gekleidet. Aber Gomringer verschließt die Augen eben auch nicht vor den Nachtseiten der Mode und ihren Produktionsbedingungen: Für die zwangsweise Etablierung normierter Formen von Weiblichkeit findet sie in den Lotosfrauen des kaiserlichen Chinas ein schlagendes Beispiel.


Schlurfende Geister

Aus Gründen eines keineswegs nur ästhetischen Ideals wurden diesen bereits in frühester Kindheit die Füße gebrochen. Wie Geister schlurften sie anschließend durch ihr Leben. "Heute ist es nicht der Fuß, öfter die Versprechen, die gebrochen sind. Denn Gleichheit kann nur werden, wo einer sieht, wie ungleich es anderen ist." Ungleichheit erblickt Gomringer gerade auch dort, wo für die Bewohner westlicher Konsumgesellschaften die Röcke, Hosen und Hemden unter elendigen Arbeitsbedingungen hergestellt werden.

Die gegenwartssensiblen Gedichte Gomringers ins Visuelle verlängert nicht erst in "Moden" der Bamberger Grafiker Reimar Limmer. Am Freitag schob ihn Gomringer ins Rampenlicht. An die Wand projiziert, standen Limmers Illustrationen gleichberechtigt neben Gomringers Gedichten.
Um das Talent anderer zu würdigen, macht sich Nora Gomringer nicht klein. Sie macht die anderen groß.