Die alten Griechen glaubten, dass die Wurzeln der Pfingstrose die Schlösser zu verborgenen Schätzen öffnen können.
Von Hans Bahmer
S ie ist die größte Verpackungskünstlerin der Natur. Außerdem gehört sie einer alten Garten- und einer noch älteren Heil- und Zauberpflanzengattung an: die Pfingstrose.
Trotz ihres Namens richtet sich ihre Blütezeit weniger nach dem Pfingstwunder, dessen die Christen 50 Tage nach Ostern gedenken, sondern ganz banal nach den aktuellen Wetterbedingungen. Da, wo bis vor kurzem noch nackter Boden zu sehen war, haben sich in der Zwischenzeit rotbraune Stängel aus dem Erdreich gedrückt. Sie strecken sich gut 60 Zentimeter gen Himmel, verfärben sich grün und setzen dralle Knospen an, aus denen in diesen Tagen barocke Blüten hervorquellen.
1. Die Blüte der Pfingstrose
Nicht nur moderne Verpackungstechniker sind verblüfft darüber, wie es der Natur gelingt, den Wust von Blüten-, Staub- und Fruchtblättern platzsparend in der Knospe unterzubringen. Die untertassengroßen Blüten leuchten meistens purpurrot, zartrosa oder cremeweiß. Die Blüte belohnt ihre Bestäuber mit offen dargebotenem Blütenstaub. Sie ist auf keine spezialisierten Blütenbesucher unter den Insekten angewiesen.
2. Die Blühzeit der Pfingstrose
Da die Blütezeit der ausdauernden Staude bei uns in die Zeit religiöser Feste fällt, ist sie längst ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil von Altardekorationen und spielt als "Rose ohne Dornen" eine feste Rolle im Marienkult. Während die Pfingstrose im Christenglauben die brennende Liebe zu Gott symbolisiert, bedeutet die Pflanze in der weltlichen Blumensprache: "Dein Stolz ist unerträglich." Aber schon kleine Regenschauer oder mäßige Winde zwingen die mit Blüten überladene Staude in die Knie - und machen die Pflanze eher zu einer Metapher, wie schnell Stolz gebrochen werden kann... Für die Chinesen, bei denen strauchförmige Pfingstrosenarten verbreitet sind, gilt die Pflanze als ein Sinnbild des Reichtums und der Ehre und hat längst den Status einer Nationalblume erlangt.
3. Herkunft und Arten der "Paeonia officinalis"
Ursprünglich war die Pfingstrose
(Paeonia officinalis) südlich der Alpen beheimatet. Inzwischen gibt es aber auch bei uns unzählige Sorten. Bevor die Päonie zu einer beliebten Gartenpflanze wurde, wuchs sie als Heilpflanze in den Klostergärten, wo sie als Benediktenrose bekannt war. Heute allenfalls noch zu Schönheitsdrogen, Hämorrhoiden- und Gichtmedikamenten oder Teemischungen verarbeitet, war das Gewächs in der Hand der Ärzte längst vergangener Zeiten ein Mittel gegen eine ganze Reihe von Krankheiten, gegen die sonst kein Kraut gewachsen war. Das Heilkraut aus der Apotheke der Natur, dessen unkontrollierte Einnahme immerhin zu Übelkeit und Erbrechen führen soll, hatte einst ein breites Wirkungsspektrum. Die Droge half zumindest früher bei Alpdrücken, reinigte - Achtung, Originalton! - "die weiber nach der geburt/ und bzingt ihn ire blödigkeyt", vermehrte "den Saamen" und kurierte zahlreiche körperliche Leiden. Für viele der alten Anwendungen werden Päonienkörner "mit Wein" empfohlen. Dass diese heilende Wunderwaffe ihre Kraft nicht aus dem heimischen Mutterboden ziehen kann, versteht sich von selbst, ihre Herkunft ist denn auch nicht von dieser Welt. Die Pflanze ist ein Geschenk der Götter!
4. Pfingstrose als Heilpflanze
Schon Paion, auf den der botanische Name der Heilpflanze zurückgeht, hat als griechischer Gott der Heilkunst im Götterhimmel erfolgreich damit geheilt. Seine Erfolge sind in den antiken Schriften nachzulesen, etwa bei Homer: "Schnell wie die weiße Milch/ vom Feigenlab sich eindickt/ gerann das Blut in der Wunde des Ares/ unter der Wirkung Paeons Kräuter".
Was Götter genesen lässt, sollte auch irdische Gebrechen heilen, muss sich der Mensch wohl gedacht haben - und begann, mit der Pflanze zu experimentieren. Für manche Rezepturen wurde sogar die Wurzel verarbeitet. Wer diese ausgrub, der musste allerlei Regeln beachten, wenn es ihm nicht übel ergehen sollte. Während Theophrast den Ausgräber vor einem Leistenbruch warnte, musste man nach anderen Quellen damit rechnen, dass einem bei fehlerhaftem Vorgehen der Specht die Augen aushackte. Dieses Schicksal mied, wer sich nach den alten Schriften richtete. Danach kann die wertvolle Droge vollkommen gefahrlos bei abnehmendem Mond im Monat März aus dem Erdreich geholt werden.
5. Die Wurzel der Pfingstrose als wertvolle Arznei
Wer schließlich die Wurzel in den Händen hielt, der hatte ein probates Mittel gegen die Fallsucht (Epilepsie) und andere Gebrechen. Nach Lonicerus (1679) half sie bereits bei äußerlicher Anwendung: "Die Wurtzel um den Hals getragen/ ist gut für die fallende Sucht." Das ist nicht verwunderlich, denn die Arzneipflanze ist gleichzeitig eine alte Zauberpflanze, die bereits in Hekates Zaubergarten der Antike auftauchte. Jener in Kolchis am Schwarzen Meer gelegene Garten war nach antiker griechischer Vorstellung ein Hot-Spot von Kräutern mit wunderlicher Wirkung. Als Springwurzel öffnet die Pfingstrosenwurzel dem Gläubigen Türen und Schlösser zu verborgenen Schätzen.
Die Wahrscheinlichkeit, heutzutage mit Hilfe des Pflanzendietrichs reich zu werden, dürfte sich von der eines Lottohauptgewinnes nicht wesentlich unterscheiden. Wer dennoch versuchen will, mit der Pfingstrosenwurzel auf Schatzsuche zu gehen, um seinen Reichtum zu mehren, sollte nicht die letzten geschützten Wildexemplare der Natur plündern, sondern auf Gartenpäonien zurückgreifen.
6. Der Wandel der Pfingstrose zur Gartenblume
Längst ist aus der in der Antike noch als Königin der Kräuter bezeichneten Pflanze eine Bürgerliche geworden. Sie ist in der realen Welt angekommen und ziert die Gärten des gemeinen Mannes. Die Pfingstrose ist noch nicht einmal, wie der Name vorgaukelt, eine Rose. Sie ähnelt den Hahnenfußgewächsen, zu denen sie einst sogar gezählt wurde, bildet aber inzwischen mit etwa 30 Arten die eigene Gruppe der Pfingstrosengewächse. Die modernen Pflanzenzüchter jedoch haben längst Päonien geschaffen, die sich vor den Rosen nicht mehr zu verstecken brauchen.
Den Menschen, die sich an den prächtigen Blüten erfreuen, den Insekten, die sich an dem Blütenstaubimbiss laben, und den Vögeln, die sich immer wieder gerne von den glänzenden Samen verführen lassen, können diese botanischen Details letztlich egal sein.