Die Würzburger Axt-Opfer und der schwere Weg zurück ins Leben

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Germanistikstudentin Tingyao Lu (links) übergab Anfang August 500 Euro an die Schwester und die Mutter des 31-Jährigen, der zu dieser Zeit noch im Koma lag. Foto: Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft Würzburg e.V.
Germanistikstudentin Tingyao Lu (links) übergab Anfang August 500 Euro an die Schwester und die Mutter des 31-Jährigen, der zu dieser Zeit noch im Koma lag.  Foto: Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft Würzburg e.V.
Die Spuren der Bluttat im Würzburger Regionalexpress: In diesem Zugabateil wurde damals die chinesische Familie von einem 17-jährigen IS-Fanatiker niedergemetzelt. Bevor der Täter erschossen wurde, griff er noch weitere Menschen an.
Die Spuren der Bluttat im Würzburger Regionalexpress: In diesem Zugabateil wurde damals die chinesische Familie von einem 17-jährigen IS-Fanatiker niedergemetzelt. Bevor der Täter erschossen wurde, griff er noch weitere Menschen an.
 

Zwei schwerst verletzte Opfer und eine Angehörige aus Hongkong sprechen erstmals über die vergangenen Monate in Würzburg.

Sie sind zuhause. Zurück in der Anonymität der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole Hongkong. Die 27-jährige Chinesin und ihr 31-jähriger Verlobter, die bei dem Axt-Attentat am 18. Juli in Würzburg schwer verletzt wurden, sind in ihre Heimatstadt zurückgeflogen.

An ihrer Seite: die 26-jährige Schwester des Manns, die nach dem Anschlag hergekommen war, um ihrem Bruder beizustehen. In Hongkong warteten bereits die Eltern der 27-Jährigen, die bei dem Anschlag in Würzburg ebenfalls schwer verletzt worden waren.


Gespräch nicht gleich möglich

Monatelang sahen sich die Opfer zu einem Gespräch mit unserer Redaktion nicht imstande: weder die verletzte Spaziergängerin in Heidingsfeld, noch die beiden chinesischen Familien. Kurz vor ihrem Rückflug nach Hongkong willigten drei von ihnen schließlich doch ein. Im Speisesaal eines Würzburger Hotels sprechen zwei Opfer des Attentats, die 26-Jährige und ihr 31-jähriger Verlobter sowie die Schwester des Manns erstmals über die vergangenen Monate in Würzburg.

Der 31-Jährige lag wochenlang im künstlichen Koma. Ob und wie er das Attentat überleben würde, wusste niemand. Lange kämpften die Ärzte des Universitätsklinikums Würzburg um sein Leben. "Ich habe das Foto gesehen, auf dem ich noch auf der Intensivstation lag", sagt der 31-Jährige jetzt. Sein Tonfall ist leise. Belegt. Die Stimme wackelt.


Schmal geworden

Er ringt sich ein Lächeln ab. "Es war ziemlich gruselig, weil ich nicht erkannt habe, dass die Person, die da auf dem Bett lag, ich selbst war." Der schlanke Asiate mit den Turnschuhen sieht viel jünger aus als 31. Sein grüner Kapuzenpulli wirkt etwas zu weit. Auch die schwarz umrandete Brille etwas zu groß.

Schmal ist er und blass. Physisch habe er keine Probleme mehr, erklärt er. Langsam ringt er nach Worten. "Ich kann ihm mit ein paar Sätzen aushelfen", sagt seine Schwester und legt beschützend den Arm um ihn. Neben ihm wirkt die 26-Jährige mit dem schwarzen Pferdeschwanz sehr lebhaft.

"Mein Bruder lag über einen Monat im Koma. Körperlich geht es ihm wieder gut. Er kann normal laufen, essen und so weiter. Aber seine Gehirnfunktionen sind noch nicht völlig wiederhergestellt."

Reaktion und vor allem Konzentration fielen ihm schwer. "Es liegt noch ein langer Weg vor mir", sagt der 31-Jährige. Er stockt, macht eine Pause: "Ein weiter Weg zurück zu meinem normalen Leben." In seinem normalen Leben war er der Hauptverdiener der Familie. Ein Ingenieur. Seine Firma will auf ihn warten, hat man ihm gesagt. Wie lange, ist ungewiss.

In Hongkong werden weitere medizinische Behandlungen folgen. Solange will die Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft den zwei Familien finanziell unter die Arme greifen. "Ich möchte meine Dankbarkeit ausdrücken bei all den vielen Menschen hier aus dem Raum Würzburg, die für uns gebetet haben, in der Kirche oder zuhause; bei allen, die uns auf diesem schweren Weg seit dem Vorfall im Zug geholfen haben, bei allen, die uns unterstützt haben, sei es auch nur mit einer Umarmung", sagt die 27-jährige Verlobte. Ihre Stimme ist hell, klar, fest. Ihr Händedruck ist entschlossen.


Dank für Anteilnahme

"Ich möchte mich bedanken bei allen, die etwas Freundliches zu mir gesagt haben, um es mir leichter zu machen", fährt sie fort. Unter einer dunklen Wollmütze glänzen lange schwarze Haare. Die Mütze nimmt sie in der Öffentlichkeit nicht ab. Auch dann nicht, wenn es warm ist. Sie war bei dem Attentat ebenfalls schwer verletzt worden.

Eine Europareise hatte ihre Familie nach Franken verschlagen. Sie selbst, ihr Verlobter, ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder kamen gerade von einer Hochzeitsfeier aus England, als es passierte. Auf der Rückreise war zunächst ein Stopp in Rothenburg geplant. In einem Regionalzug bei Würzburg ging ein 17-jähriger afghanischer IS-Terrorist mit einem Messer und einer Axt auf die Familie los. Auf seiner Flucht verletzte er eine Spaziergängerin in Heidingsfeld, bevor er von Polizisten erschossen wurde.

Die Erinnerung an dieses Erlebnis werde niemals leichter, sagt die 27-Jährige. Die Tat fordere immer noch sehr viel Kraft, beeinflusse ihr ganzes Leben. Aber sie sei froh, dass sie hier in Würzburg professionelle Hilfe erhalten habe. Schritt für Schritt wolle sie in ihr normales Leben zurückfinden.

"Es ist schwer, sich emotional zu erholen", fügt die Schwester ihres Verlobten hinzu. "Was passiert ist, ist passiert. Wir können den Vorfall nicht auslöschen. Doch wir können versuchen, optimistischer zu werden und mehr Stärke zu erlangen." Die 27-Jährige nickt ihrer Schwägerin zu.

Ihr Vater (62) leidet noch immer an den Folgen seiner Verletzungen. Ihrer Mutter geht es relativ gut. Der 17-jährige Bruder, der den Angriff im Zug ebenfalls mit ansehen musste, ist in psychologischer Behandlung. Alle drei Familienmitglieder befinden sich bereits wieder in Hongkong.

Ob die 27-Jährige jemals nach Deutschland oder gar nach Würzburg zurückkommen wolle? "Um ehrlich zu sein, am Anfang hätte ich Nein gesagt. Im Zug sind alle bloß geflohen und haben uns allein gelassen", beschreibt die Asiatin ihre anfänglichen Eindrücke.


Die Angst bleibt

Doch in den vergangenen Monaten hätten die Menschen hier ihre Gefühle verändert. "Die meisten sind sehr mitfühlend und wirklich herzlich. Sie machen es mir jeden Tag etwas leichter, hier zu sein." Mit Schrecken erinnert sie sich an den Tag, als sie im Krankenhaus aufwachte. "Ich wusste nicht, wo ich bin. Ich wusste nicht, wie es meiner Familie und meinem Freund geht." Fast wahnsinnig vor Angst sei sie gewesen.Doch die Ärzte und Schwestern hätten sie beruhigt.

Sie hätten mit ihr geredet, immer wieder telefoniert, um sich zu vergewissern, wie es ihrer Familie geht. Sie hätten sie von ihren Verletzungen abgelenkt.

Die Ärzte im Würzburger Universitätsklinikum seien sehr professionell und freundlich, das Pflegepersonal hilfsbereit und einfühlsam. Gerade in den ersten Nächten sei ihr die Krankenhausatmosphäre bedrohlich erschienen. Doch die Schwestern kamen regelmäßig zu ihr, um sie zu beruhigen.

"Ich denke, ohne die Hilfe der Ärzte und Psychologen hätte ich mich nicht so schnell erholt", sagt die 27-Jährige. Selbst andere Patienten hätten ihre Hilfe angeboten, sei es auch nur, um die Speisekarte in der Cafeteria zu übersetzen. Ihr Verlobter hat Ähnliches erlebt: "Sie haben mir sehr geholfen. Sie haben mich nicht wie einen Patienten, sondern vielmehr wie einen Freund behandelt. Sie haben sich richtig um mich gekümmert."


Wie Freunde behandelt

Auch er würde noch einmal nach Deutschland kommen. "Es gibt so viele Orte, an denen ich noch nicht war." Viele Menschen hätten ihnen geholfen: Angehörige der Gesellschaft für Deutsch-Chinesische Freundschaft, Offizielle der Stadt Würzburg, der Polizei, der Universität, Ärzte und Schwestern.

Als die Leute in den Nachrichten von den schlimmen Ereignissen erfuhren, hätten sie sie wie Freunde oder Familienmitglieder behandelt, sagt die 26-jährige Schwester. "Die Menschen waren sehr aufgebracht, da Würzburg eine sichere kleine Stadt ist und niemand damit rechnen konnte, dass hier so etwas passiert."

Als sie mit ihrer Mutter am Bett ihres Bruders saß, habe sich das Klinikpersonal auch um sie gekümmert. Es habe ihnen geholfen, nicht in jeder Sekunde an das Schicksal des Bruders zu denken, um nicht in Depression oder Wut zu verfallen. Vielmehr habe es sie auf andere Gedanken gebracht. Das habe ihnen gut getan. Und als es dem Bruder wieder besser ging, war die Familie dankbar und glücklich.


Ablenkung

Sogar einige Sehenwürdigkeiten haben sich die Asiaten in Würzburg angeschaut. Die 27-Jährige, die in Hongkong in der Kulturbranche arbeitet, fand die Würzburger Festung, die Residenz und das Dommuseum besonders interessant. Ihrem Verlobten, der an die Hochhäuser Hongkongs gewöhnt ist, werden vor allem die Kirchendichte in Würzburgs Innenstadt, die alten Gebäude und die vielen Bäume in Erinnerung bleiben.

Seine Schwester fügt hinzu, sie hätten in Deutschland großes Unglück erlebt. Doch gerade in den Monaten nach dem Attentat hätten die Menschen hier in Franken ihr Bestes gegeben, um ihre Familie gut zu behandeln. "Das ist es, was wir zu schätzen wissen."