Flüchtlingsrat: Jeder Flüchtling sollte bleiben dürfen

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Die Polizei ging mit Schlagstöcken und einem Hund gegen Schüler vor, die mit einer Sitzblockade und Demonstration die Abschiebung eines 20 Jahre alten Berufsschülers in sein Herkunftsland Afghanistan verhindern wollen. Foto: Michael Matejka, dpa
Die Polizei ging mit Schlagstöcken und einem Hund gegen Schüler vor, die mit einer Sitzblockade und Demonstration die Abschiebung eines 20 Jahre alten Berufsschülers in sein Herkunftsland Afghanistan verhindern wollen. Foto: Michael Matejka, dpa

Johanna Böhm vom Bayerischen Flüchtlingsrat in Nürnberg kritisiert die Abschiebung von Flüchtlingen nach Afghanistan als unmenschlich.

Die Ausschreitungen bewegen ganz Deutschland: Am Mittwoch wollten die Schüler eines Nürnberger Berufsschule die Rückführung eines Klassenkameraden in sein Heimatland Afghanistan verhindern. Die Lage eskalierte, es kam zu mehreren Festnahmen.

127 000 Menschen aus Afghanistan haben 2016 Asyl in Deutschland beantragt. 20,2 Prozent wurden als Flüchtlinge anerkannt, 35,6 Prozent erhielten subsidiären Schutz. Die Anträge der Übrigen wurden abgelehnt. Was mit Letzteren geschehen soll, ist in Öffentlichkeit und unter politisch Verantwortlichen hochumstritten.
Kategorisch dagegen lehnt der Bayerische Flüchtlingsrat Abschiebungen ab. Dessen Sprecherin Johanna Böhm spricht von "Psychoterror gegen Geflüchtete".

Warum verurteilt der Bayerische Flüchtlingsrat Abschiebungen nach Afghanistan?
Johanna Böhm: Weil Afghanistan kein sicheres Herkunftsland ist. Die Sicherheitslage ist so schlecht wie seit Jahren nicht. Allein in den letzten zwölf Monate hat es bei Attentaten und Anschlägen rund 11 000 Tote und Verletzte gegeben.

Wie erklären Sie sich, dass 2016 dennoch über 3000 Afghanen freiwillig ausgereist sind?
Die erhöhte Zahl freiwilliger Ausreisen nach Afghanistan gibt es, seit Deutschland damit anfing zu drohen, vermehrt nach Afghanistan abzuschieben. Es herrscht ein massiver Ausreisedruck in Form von Leistungskürzungen oder faktischen Arbeitsverboten.

Warnen Sie Menschen, die von einer Abschiebung bedroht sind?
Wir kennen im Voraus keine Namen. Aber wir können uns denken, wer besonders gefährdet ist.

Wer ist das?
Alleinstehende, jüngere Männer mit einem abgeschlossenen Asylverfahren. Viele sind seit Jahren in Deutschland.

Und die warnen Sie dann?
Wir empfehlen Ihnen, schnell einen Anwalt zu konsultieren und beispielsweise einen Folgeantrag zu stellen.

Was ist ein Folgeantrag?
Ein neuer Asylantrag. Man kann ihn stellen, wenn neue Gründe hinzugekommen sind. Das können Krankheiten oder eben eine sich dramatisch verschlechternde Sicherheitslage sein.

Sind Folgeanträge der Grund, weshalb bei Sammelabschiebungen regelmäßig weniger Menschen abgeschoben werden als geplant?
Einige werden sich dem Zugriff durch die Behörden auch entzogen haben. Viele Afghanen leben in panischer Angst vor einer Abschiebung. Sie schlafen nicht mehr in ihrer offiziellen Unterkunft, sondern bei Bekannten.

Macht sich strafbar, wer einem Ausreisepflichtigen Unterschlupf gewährt?
Nein. Die Asylbewerber tauchen ja nicht unter. Sie schlafen nur woanders.

Wie geht es den jungen Männern, die jüngst nach Afghanistan abgeschoben worden sind?
Wir wissen, wie es einem jungen Mann aus Strullendorf und zwei Männern aus Nürnberg geht. Der Afghane aus Strullendorf ist kurz nach seiner Ankunft in Afghanistan bei einem Anschlag verletzt worden. Er lebt derzeit noch in einem Wohnheim, muss dort aber bald raus. Er ist im Grunde so rat- und orientierungslos wie die beiden Nürnberger. Die kennen dort keinen, wissen nicht wohin und was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.

Bekommen die Abgeschobenen zumindest Unterstützung?
Nein, die deutsche Zuständigkeit endet, sobald der Flieger in Richtung Afghanistan abgehoben hat. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet ihnen zumindest für die ersten zwei Wochen eine Unterkunft an. Soweit ich weiß, kann die IOM auch Geschäftsgründungen mit bis zu 700 Euro unterstützen. Aber sollen die Männer jetzt eine Würstchenbude in Kabul eröffnen?

Wie viele ausreisepflichtige Afghanen gibt es derzeit in Bayern?
Wir gehen von rund 800 aus.

Wie sollte Deutschland mit ihnen umgehen?
Wir fordern einen Abschiebestopp von drei Monaten. Diese Zeit sollte man nutzen, um sich die Sicherheitslage genauer anzusehen. Im Grunde gehen wir aber davon aus, dass wir auch in zehn Jahren noch keine Afghanen zurückschicken sollten.

Was bedeutet dies für die Zukunft der ausreisepflichtigen Afghanen?
Dass sie bleiben dürfen. Sie sollten sich in Deutschland ein Leben aufbauen, arbeiten und Familien gründen dürfen.

Was ist mit Straftätern?
Keine Abschiebung ist legitim und geboten. Eine Abschiebung darf keine rechtsstaatliche Antwort auf Straftaten sein. Letztendlich handelt es sich um "Doppelt-Bestrafungen" - einmal nach dem deutschen Rechtssystem und dann noch in Form einer Abschiebung.

Sind überhaupt Abschiebungen denkbar, die Sie für akzeptabel, vielleicht sogar notwendig halten?
Wir sind gegen Abschiebungen - vor allem, wenn es kein individuelles Asylverfahren gibt, das seinen Namen verdient.

Aber das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) prüft doch jeden einzelnen Antrag.
In formeller Hinsicht stimmt das. Aber allein das Konstrukt der sicheren Herkunftsländer führt dazu, dass Asylanträge oft oberflächlich geprüft werden.

Haben Sie dafür Belege?
Wir sehen uns regelmäßig die Protokolle von Anhörungen an.

Lassen Sie uns zusammenfassen: Der Bayerische Flüchtlingsrat lehnt Abschiebungen generell ab.
Ja, so ist es. Es gibt für uns ein Menschenrecht auf Asyl. Wenn Asylbewerber freiwillig ausreisen wollen, sind sie zu beraten und zu unterstützen. Aber sie sollten nicht gedrängt werden.

Wäre das nicht geradezu eine Einladung für alle Armen und Bedrängten, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen?
Das eigene Heimatland, Familie und Freunde zu verlassen und sich auf eine mitunter lebensgefährliche Flucht zu begeben: Das machen die wenigsten wegen einer erhofften besseren Perspektive auf dem Arbeitsmarkt.

Hat die Unterstützung von Asylbewerbern nicht zur Voraussetzung, dass jene ohne Anspruch das Land wieder verlassen müssen?
Nein, diesen Zusammenhang gibt es meinen Augen nicht.


Das Gespräch führte
Christoph Hägele.