1945 war Liselotte Zimmermann mit ihrer Familie auf der Flucht. Sie hoffte, dass sich so etwas in Europa nie wiederholen würde. Die Bilder aus der Ukraine wecken Erinnerungen - und großes Mitgefühl für die Opfer.
Die Jahrzehnte hatten die Bilder im Kopf verblassen lassen. So viel Zeit ist vergangen, seit Liselotte Zimmermann, das Nötigste in einer Reisetasche, aus Danzig Richtung Westen floh, bevor die russischen Truppen die Stadt erreichten. Das war im Januar 1945. "Jetzt sehe ich im Fernsehen, was in der Ukraine passiert, und in meiner Erinnerung ist alles wieder da. Mir ist, als wäre es gestern gewesen." Die 97-Jährige ist erschüttert, fühlt mit den Hunderttausenden Menschen auf der Flucht in eine ungewisse Zukunft.
Liselotte Zimmermann ist in Danzig aufgewachsen, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war sie 15 Jahre alt. "Als die Deutschen 1939 Polen überfielen, wurden sie in Danzig freudig begrüßt. Die Stadt ertrank in roten Nazi-Fahnen", erinnert sich die Kulmbacherin. Die wirtschaftliche Lage der Stadt sei damals schwierig gewesen, viele wollten "heim ins Reich". Ihr Vater habe das alles sehr kritisch gesehen und Schlimmes befürchtet. Mit Recht. Gegen Ende des Krieges war von der einstigen Euphorie nichts übrig.
Die junge Liselotte machte 1943 ihr Abitur, wurde dann zum Arbeitsdienst und zum Kriegshilfsdienst verpflichtet. Ihr letzter Einsatzort war eine Stelle als Schreiberin im als kriegswichtig eingestuften Ernst-Orlich-Institut. Im Januar 1945 war die russische Armee in Polen auf dem Vormarsch, der Landweg Richtung Westen für die überwiegend deutsche Bevölkerung Danzigs längst versperrt. "Es gab nur noch eine Möglichkeit, dort wegzukommen - mit dem Schiff." Ihre Tätigkeit im technischen Institut schenkte ihr diese Möglichkeit.
"Ich bekam am 28. Januar zwei Schiffskarten und durfte mit meiner kleinen Schwester an Bord Richtung Kiel. Mit 150 Leuten lagen wir wie die Ölsardinen im Bauch des Schiffes, als nachts plötzlich alle Maschinen stoppten. Wir haben erst am nächsten Tag erfahren, wie gefährlich die Lage war: Ein russisches U-Boot war ganz in der Nähe."
Lange habe sie an diese Szenen nicht mehr gedacht, sagt Liselotte Zimmermann. "Doch jetzt kommt alles wieder hoch. Dieses unnötige Leid. Diese vielen Menschen, die friedlich lebten und plötzlich alles verlieren, deren Häuser zerstört sind, die nichts mehr haben außer ihr Leben, krank vor Sorge sind um ihre Freunde und Familienangehörigen, um ihre Männer, Brüder und Söhne, die in einem Krieg kämpfen, den sie nicht gewinnen können."
Damals wie heute ist der Seniorin bewusst: "Wir waren damals als Nation schuld an diesem furchtbaren Krieg, die Aggression ging von uns aus. Die Russen kämpften damals gegen die Nazis. Das ist etwas ganz anderes als der jetzige Angriff auf die Ukraine. Aber wir einzelnen Menschen - wir waren Opfer. So wie auch heute unzählige unschuldige Opfer gibt - in der Ukraine, auf russischer Seite und in den vielen anderen Kriegen auf der Welt."
Niemand sei in einer solchen Situation vorbereitet auf das, was kommt. "Was muss ich tun, wenn Krieg ist, wenn ich fliehen muss. Das lernst du nirgends, du kannst nur reagieren", sagt die Seniorin, entsetzt über die Ströme von ukrainischen Frauen und Kindern, die in den Nachbarländern Schutz suchen müssen. "Man fühlt sich hilflos dem ausgesetzt, was passiert. Ich hatte damals großes Glück, und trotzdem hat die Flucht Monate gedauert und wir wussten lange nicht, wie und wo das enden würde."