Wenn der Arzt aus unerklärlichen Gründen die Pflegestufe verweigert

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Eine medizinische Beurteilung hinsichtlich der Pflegestufe ihres Vaters machte Gabi T. sehr wütend. Foto: Hendrik Steffens
Eine medizinische Beurteilung hinsichtlich der Pflegestufe ihres Vaters machte Gabi T. sehr wütend.  Foto: Hendrik Steffens

Der Vater von Gabi T. litt an Amyotropher Lateral-Sklerose, kurz ALS. Die Krankheit machte ihn zum Pflegefall. Seine Tochter kümmerte sich so gut sie konnte. Als fast nichts mehr ging und sie bei der Krankenkasse eine höhere Pflegestufe beantragte, erlebte sie eine böse Überraschung.

Am 6. Februar bekam Gabi T. einen Brief, dessen Inhalt ihr die Stimme zittern lässt. "Wie kann so was sein?", fragt sie und weist auf das vor ihr liegende Gutachten. Die wenigen Zeilen beschreiben den Pflegebedarf ihres schwer kranken Vaters kurz vor seinem Tod Anfang Februar. Und sie verwehren eine höhere Pflegestufe - aus für T. nicht im Ansatz nachvollziehbaren Gründen.

Der Vater litt an der Krankheit Amyotrophe Lateral-Sklerose, kurz ALS. Seit vergangenem Sommer ist die Krankheit recht bekannt: Die "Ice-Bucket-Challenge" hatte zum Ziel, auf die unheilbare Erkrankung hinzuweisen und Geld für ihre Erforschung zu sammeln. ALS verläuft degenerativ, bringt also eine kontinuierliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Betroffenen mit sich.

An dem Arzt, der den inzwischen Verstorbenen hinsichtlich seiner Pflegestufe beurteilen sollte, schienen sämtliche Information über ALS vorbeigegangen zu sein, meint T. Seine erste Frage sei gewesen, welche gesundheitliche Besserung sich seit einer zurückliegenden ersten Untersuchung eingestellt hätten. "Ich habe keine Ahnung, was mit dem Mann los war", sagt T. und schüttelt den Kopf.

Anfang der Krankheit
Mitte 2014. Seit einigen Monaten war ihr Vater nicht mehr so sicher auf den Beinen. Ständig stolperte er, immer häufiger fiel er. Die Ärzte schoben es auf die Wirbelsäule. Ein Bandscheibenvorfall könne mit schlechterem Ansprechen der Nerven und mit Lähmungen einhergehen, erinnert sich T. Als sich nach einer Operation aber keine Besserung einstellte, suchte die Familie den Rat eines Neurologen. "Er konnte nichts Genaues sagen. Aber er hatte den Verdacht, dass es ALS sein könnte", erinnert sich die Frau aus dem Kreis Kronach an einen schlimmen Tag im Juni 2014.

Monatlich 440 Euro
Der Verdacht erhärtete sich und die Selbstständigkeit des 72-Jährigen ließ rasant nach. Bei einer Untersuchung durch den Sozialmedizinischen Dienst seiner Krankenkasse am 27. Juni stellte eine Ärztin erhebliche Einschränkungen fest. Auf der Basis dieses Gutachtens bewilligte die Kasse dem Rentner Leistungen, die der Pflegestufe II entsprechen (Schwerpflegebedürftigkeit). Damit einher ging eine monatliche Überweisung von 440 Euro.

Der Sozialmedizinische Dienst hatte festgestellt, dass täglich 249 Minuten aufgewendet werden müssten, um den 72-Jährigen angemessen zu versorgen. Zu der Zeit konnte der Mann noch am Rollator gehen und mit etwas Hilfe selbstständig essen. "Leider wurde es so schnell schlechter. Viel schneller, als wir anfangs geahnt haben", erinnert sich die Tochter. Im September holte sie ihren Vater aus der thüringer Heimat in den Kreis Kronach - in eine behindertengerechte Wohnung. In seiner alten Wohnung sei ihm der Alltag zur Tortur geworden. Seine Frau hätte allein kaum angemessen helfen können. "Ich bin seit mehr als 20 Jahren Krankenschwester. Aber so einen aggressiven Krankheitsverlauf habe ich selten gesehen", sagt Gabi T.

Sie weist auf ihre Arme, Beine, den Hals. Ihr Vater verlor die Kontrolle über all seine Extremitäten. Zunehmend plagte ihn Atemnot. "Ich habe mitten im Winter das Fenster aufgerissen, damit er das Gefühl hat, mehr Luft zu bekommen."

Die zunehmende Hilflosigkeit des 72-Jährigen habe immer intensiverer Pflege bedurft. "Die 28 Pflegestunden pro Woche, die über die Pflegestufe II gedeckt waren, reichten nicht im Ansatz aus." Deshalb stellte T. bei ihrer Kasse einen Antrag auf erneute Prüfung der Pflegestufe ihres Vaters.

Am 15. Januar schickte der Sozialmedizinische Dienst der Kasse einen Arzt, um eine zweite Untersuchung vorzunehmen. Wenn T.. an den Tag zurückdenkt, wird sie noch immer wütend. "Er kam zu spät, schien unvorbereitet und wusste nicht einmal, an welcher Krankheit mein Vater litt." Der Arzt habe gefragt, inwiefern sich der Gesundheitszustand des Mannes seit Juni gebessert habe. Dabei sei, so T., aus Aufzeichnungen der behandelnden Ärzte an der Uniklinik Jena ersichtlich gewesen, dass sich sein Zustand verschlechtert habe.


Ärztliche Willkür?
Der Tag, an dem die Ergebnisse eintrafen, war wohl einer der schlimmsten im Leben von T. Anfang Februar, wenige Tage nach dem Tod des Vaters, kam das Schreiben mit der Verweigerung der höheren Pflegestufe. Begründung an den Patienten: Man habe "festgestellt...dass eine Änderung Ihres Gesundheitszustandes nicht eingetreten ist", liest sie die gelb markierte Stelle vor.

In Wahrheit habe zwischen den beiden Untersuchungen des Sozialmedizinischen Dienstes ein enormer gesundheitlicher Verfall stattgefunden: vom Gehen am Rollator im Juni 2014 hin zu völliger Kraftlosigkeit und ständiger künstlicher Beatmung im Januar. Ab dem Zeitpunkt war palliativmedizinische Versorgung notwendig. Damit sei auch der Pflegebedarf gestiegen.

"Unendlich wütend und traurig", sagt T., habe sie das Gutachten des Arztes gemacht. Es dürfe nicht sein, dass die Beurteilung der Pflegestufe eines schwer kranken Menschen von der Willkür eines einzelnen Arztes abhänge. Sie sucht die Öffentlichkeit, um darauf aufmerksam zu machen.

Bemühen um Objektivität
Claudia Müller von der Pressestelle der Knappschaft weist darauf hin, dass es sich bei dem Mediziner, der das Gutachten erstellt hat, um einen unabhängigen Arzt handele. Nach einer Beschwerde der Gabi T. sei er um eine Stellungnahme gebeten worden. Sie bedauere, dass T. unzufrieden mit dem Gutachten sei. Es dürfe aber nicht vergessen werden, dass "bei einem solchen Gutachten nicht der Gesundheitszustand, sondern nur die Pflegebedürftigkeit beurteilt wird". Und eine Erhöhung derselben habe der Mediziner im konkreten Fall anscheinend nicht gesehen.

Generell gelte: Gegen ein Gutachten des SMZ könnten Kassenkunden oder deren Angehörige innerhalb von vier Wochen Widerspruch hinsichtlich der beschlossenen Pflegestufe einlegen. "Sehr kranke Patienten werden priorisiert. Und sie werden von einem zweiten, ebenfalls unabhängigen Mediziner erneut untersucht", so Müller.
Wenn sich Beschwerden über einen begutachtenden Arzt häufen würden, so Müller, würde eine Zusammenarbeit beendet werden. Das ist ein schwacher Trost für Gabi T., aber geltendes Recht.

Wie Pflegestufen ermittelt werden
Gutachten Grundlage für Entscheidungen der Pflegekasse ist das Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK), einer unabhängigen Gemeinschaftseinrichtung gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherungen (eine Ausnahme ist der SMD der Knappschaft). Bevor eine Pflegekasse entscheidet, erfolgt eine Begutachtung.

Pflegestufe 1 Erheblich pflegebedürftig, soll heißen: Der Hilfebedarf für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung muss pro Tag mindestens 1,5 Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen.

Pflegestufe 2 Schwer pflegebedürftig, soll heißen: Der Hilfebedarf für Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung muss pro Tag mindestens drei Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens zwei Stunden entfallen.

Pflegestufe 3 Schwerst pflegebedürftig, soll heißen: Der Hilfebedarf für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung muss pro Tag mindestens fünf Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens vier Stunden entfallen.

Ort Je nachdem, ob ein pflegebedürftiger Mensch zu Hause oder in einem Heim lebt, werden von der Pflegekasse finanzielle Leistungen gewährt. Die Höhe ist abhängig von der Pflegestufe.