Totschlag oder unterlassene Hilfeleistung?

3 Min
Der Angeklagte trägt auch im Gerichtssaal Fußfesseln Foto: Ronald Rinklef
Der Angeklagte trägt auch im Gerichtssaal Fußfesseln Foto: Ronald Rinklef

War es "nur" unterlassene Hilfeleistung oder doch Totschlag? Auf diese Frage müssen Richter Gerhard Amend und seine Kollegen der großen Strafkammer bis Donnerstag eine Antwort finden.Denn am Ende des dritten Prozesstages gab es noch kein Urteil.

In dem Prozess wird einem 26-Jährigen aus dem Landkreis Kronach vorgeworfen, im Januar den zweijährigen Sohn seiner damaligen Lebensgefährtin getötet zu haben.Er soll ihm einen Schlag oder Tritt in den Bauch versetzt haben, so dass der Bub eine Treppe hinabstürzte, und ihn anschließend lediglich ins Bett gebracht haben, wo er ihn am Morgen darauf tot fand.
Der Angeklagte hatte das Geschehen am ersten Prozesstag durch seinen Verteidiger als "tragischen Unglücksfall" bezeichnen lassen. Am zweiten Prozesstag hatte ein Gutachter diesen Angaben widersprochen. Viele Verletzungen des Kindes seien demnach mit einem Treppensturz erklärbar, jedoch nicht das Hämatom im Oberbauch.
"Sie haben bisher nichts gesagt. Sie haben die Anklage mitbekommen, die Oberstaatsanwältin wirft ihnen vor, dass Sie die Verletzung herbei geführt haben. Die Kindsmutter sitzt hier, sie wartet sicherlich auf eine Antwort von Ihnen", appellierte Richter Gerhard Amend an den Angeklagten, der bislang zum Tathergang geschwiegen hatte, sich doch zu äußern. "Machen Sie hier reinen Tisch, damit auch Sie wieder einen Neuanfang machen können", schloss sich die Nebenklägervertreterin Kristina Freifrau von Imhoff an.
Die Mutter des getöteten Kindes, die aus dem Raum Kulmbach stammt, schaut hinüber auf die Anklagebank zu ihrem ehemaligen Freund - verständnislos, aber dennoch fest ist der Blick, fast als ob sie ihn ermutigen wolle, etwas zu sagen.
In einer 20-minütigen Pause soll der Angeklagte "mit sich selbst ins Reine kommen", wie es Amend formuliert. Doch der junge Mann sagt danach nur "Ich weiß nicht, wo der blaue Fleck herkommt, ich weiß nur, dass ich ihn nie getreten oder geschlagen hab'. Mehr kann ich dazu nicht sagen." Dann schaut er wie die meiste Zeit nach links zu seinem Verteidiger und dessen Kollegin. Dieser hatte vor der Pause einen Beweisantrag gestellt, dass der Zusammenstoß zwischen seinem Angeklagten und dem Kind nicht vermeidbar gewesen sei. Der Mann sei schnell aus dem Schlafzimmer um die Ecke gekommen, habe dabei nicht sehen können, dass der Junge auf der Treppe steht.
Jiri Adamec, Biomechaniker am Rechtsinstitut München, erklärte, dass es gut möglich sei, dass der Zusammenstoß nicht vermeidbar gewesen ist, "allerdings finden sich Widersprüche". So sei es, wenn man in der Bewegung ist, ganz normal, dass man die Treppe weiter hinunterläuft, nicht, wie der Angeklagte beschrieben hatte, stoppt. Beziehungsweise reiche man dem Kind, wenn es stürzt, reflexartig die Hand.
"Jeder, der schon mal einen kleinen Blechschaden hatte, weiß, dass man sich hinterher nicht mehr an jedes Detail erinnern kann. Bei meinem Mandanten wird aber verlangt, dass er sich an alles genau erinnern kann", sagt Verteidiger Till Wagler dazu in seinem Plädoyer. Der blaue Fleck im Bauchbereich könne auch schon vor dem Treppensturz entstanden sein. Er verwies auf verschiedene Zeugenaussagen - unter anderem die der Kindsmutter -, dass der Angeklagte nie Aggressionen an Kindern ausgelassen habe. Seinen Mandanten belaste es sehr, dass er das Kind nach dem Sturz nicht ins Krankenhaus gebracht hatte. "Mit der Schuld muss er ein Leben lang leben." Wagler sprach angesichts dessen lediglich von unterlassener Hilfeleistung, die mit einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe geahndet wird.
Oberstaatsanwältin Ursula Haderlein blieb allerdings bei dem Vorwurf des Totschlags, wofür sie eine Freiheitsstrafe von elf Jahren forderte. Fest machte sie das "im Wesentlichen" an folgenden Punkten: Daran, dass der Angeklagte bei seinen Vernehmungen unterschiedliche Angaben gemacht habe, an den Aussagen der beiden Sachverständigen sowie am SMS-Verkehr zwischen dem Angeklagten und der Mutter des Kindes am Abend der Tat. "Da kann mir doch keiner erklären, dass die Atmosphäre locker war", sagte Haderlein. Sie warf dem Angeklagten vor, vielmehr von der Situation daheim genervt und überfordert gewesen zu sein.
Die Nebenklägervertreterin warf dem 26-Jährigen gar vor, eiskalt gehandelt zu haben. "Meine Mandantin hat Ihnen vertraut - und Sie sagen ihr bis heute nicht, was an dem Abend passiert ist", ging sie darauf ein, dass die 22-jährige Mutter ihrem damaligen Freund ihren Sohn anvertraut habe, weil sie selbst an dem Abend nicht zu Hause war. Die junge Frau, die neben ihrer Anwältin auf dem Stuhl sitzt, wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. "Wenn das, was er sagt, der Wahrheit entspricht, dann frage ich mich, warum er mir nicht ins Gesicht schauen kann", blickt die junge Frau wieder hinüber zur Anklagebank. "Ich weiß nur, dass ich noch nie ein Kind geschlagen oder getreten habe", sagt der Angeklagte daraufhin - ohne seine ehemalige Freundin anzublicken.