Per Dartpfeil nach Neuses (Kronach): Hinter jeder Tür eine Überraschung

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Irgendwo muss er sich versteckt halten, der Jungbrunnen, der die Neuseser bei Kronach derart agil, kreativ, gastfreundlich und fit hält. Vielleicht ist es aber auch einfach nur die gute Luft kurz vorm Frankenwald.

Fast wären wir vorbeigefahren. Obwohl der Verkehr an der Ausfahrt zum Kronacher Stadtteil Neuses auf 70 Stundenkilometer abbremsen muss, verpassen Fotograf Matthias Hoch und ich beinahe die Abfahrt. Wie sich später an diesem Tag herausstellen soll, wäre das verdammt schade gewesen. Denn hinter beinahe jeder Tür des auf die ersten Blicke sehr unscheinbaren Örtchens an der Rodach wohnen unheimlich interessante Menschen. Und: Sie alle bitten uns freundlich herein, um ihre spannenden Geschichten mit uns zu teilen.

Gerne nehmen wir die Angebote an, nicht nur weil sich die drohend über der Gegend schwebenden Regenwolken im Laufe des Tages tatsächlich noch ergiebig über uns ergießen sollen. Aber von vorne. Wie in dieser Sommerserie üblich, folgen wir den exakten Koordinaten meines Dartpfeiles und landen mitten im Wald. Genauer am Kachelmannsberg, der sich nordwestlich von Neuses über der viel befahrenen Bundesstraße 173 erhebt. Da wir nicht warten wollen, bis sich irgendwann ein Gassigänger oder Jogger zu uns gesellt, laufen wir den Schotterweg in Richtung Tal. Wir treffen auf ein großes Anwesen, Brigitte Fiedlers Ferienhof.

Die Leute hier wirken alle viel jünger

Die beinahe 80-Jährige vermietet dort rustikal eingerichtete Zimmer mehrheitlich an Montagearbeiter, hin und wieder auch an Touristen. Pensions-Chefin und Zimmermädchen in Personalunion: Ihre Tochter hilft oft, im Großen und Ganzen hält die rüstige Seniorin aber den Betrieb alleine am Laufen. "Früher hatten wir Kühe, später züchteten wir Pferde", erzählt sie. Erfolgreich, einige Tiere schafften es im Laufe der Zeit weltweit in gute Stallungen. Seit dem Tod ihres Mannes konzentriert sich die mindestens 15 Jahre jünger wirkende Dame auf die Herberge. Nicht nur des Geldes wegen. "Was soll ich alleine in dem großen Haus?"

Auch wenn wir gerne noch länger bei der bemerkenswerten Frau geblieben wären, führt uns der Weg weiter. Bevor wir endgültig in den Ort einbiegen, legen wir einen Stopp bei "Mikes Bike Shop" ein. Mit Fahrrädern hat das Geschäft des wieder viel jünger wirkenden 61-jährigen Michael Schmidt nicht mehr viel zu tun. Er hat sich auf den Import von Motorrädern und Ersatzteilen der italienischen Motorsportmarke TM Racing spezialisiert und managt deren deutsch-österreichisches Rennteam.

Das wahrlich beeindruckende aber offenbart sich unterhalb der Ladendecke. Pokal an Pokal reiht sich dort aneinander. 860 Trophäen hat Schmidt in 45 Jahren Enduro-Karriere gesammelt. 1996 wurde er in den USA sogar Seniorenweltmeister. Dabei ist er viel herumgekommen, zu Hause sei es aber am schönsten: "Ich fühle mich wohl, der Stressfaktor ist hier noch nicht angekommen", sagt er lachend.

Mein Magenknurren sagt die Zeit an, es ist Mittag. Die meisten Leute sind zu Tisch, weshalb wir durch menschenleere Straßen schlendern. Es beginnt zu nieseln. Da bleiben unsere Blicke an einem liebevoll gestalteten Vorgarten neben dem Bahnhof hängen: "Keramik Malerei" steht dort geschrieben. Wir treffen auf Sylvia Reuter. Die 56-Jährige hat sich in ihrem Haus ein Atelier eingerichtet, wo sie allerlei Alltagsgegenstände aus Keramik fertigt und per Hand bemalt. Gelernt hat die gebürtige Meißnerin in der berühmten gleichnamigen Porzellanmanufaktur. Seit 1988 lebt sie nun in Oberfranken, im März hat sie sich ihren Lebenstraum der Selbstständigkeit erfüllt. Ihre Augen leuchten, wenn sie über Maltechniken spricht und Brennverfahren erklärt. "Ich wollte meine Kreativität endlich richtig ausleben können", erzählt sie.

Allmählich gibt unser Magen keine Ruhe mehr, weshalb wir kurzerhand bei Jutta Hummel einkehren. Die 60-jährige Metzgermeisterin versorgt ihren Geburtsort seit 33 Jahren mit tierischen Eiweißen in allen Varianten und scheint jeden Einwohner des zweitgrößten Kronacher Stadtteils zu kennen. Ihr ausgeprägter Dialekt unterstreicht den hemdsärmeligen Humor und macht unseren kleinen Snack zum witzigen Erlebnis. Wir lieben Neuses!

Wer braucht schon ein Dach bei Regen?

Zurück auf dem pfützennassen Kirchplatz trauen wir unseren Augen kaum. Dem Regen trotzend tuckert uns auf einem 71 Jahren alten grasgrünen Traktor (ohne Dach) mit Georg Hummel ein Neuseser Urgestein entgegen. Selbstverständlich springen wir wagemutig auf die Straße, stoppen ihn und kommen schnell ins Gespräch. Das veranlasst den pitschnassen 70-Jährigen ohne zu zögern dazu, uns zu einem Kaffee in sein Haus einzuladen. Hatte ich bereits erwähnt, die Neuseser zu lieben?

Beim Gang durch den in einen beeindruckenden Skulpturenpark verwandelten Vorgarten wähnt der Besucher den berühmten Blauen Reiter der Expressionisten des frühen 20. Jahrhunderts an seiner Seite trabend. Das 300 Jahre alte Flößerhaus, in dem Hummel mit seiner Frau Margot im kommenden Jahr goldene Hochzeit feiern darf, gleicht der aktuellen Franz Marc-Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Wie viele Bilder und Skulpturen der 70-jährige Autodidakt bereits angefertigt hat, ist allenfalls zu schätzen. "Ich habe längst aufgehört zu zählen", sagt er.

Vor 30 Jahren entdeckte er seine Liebe zur Kunst. Regelmäßig im Atelier anzutreffen ist der ehemalige Geschäftsführer einer Firma im nördlichen Kronacher Landkreis aber erst seit dem Ende seiner beruflichen Laufbahn vor acht Jahren. Ständig zum Malen und Werkeln komme er aber trotz der entfallenen Geschäftstermine nicht. Zu viel Zeit beanspruchen die Musikproben, das Sammeln alter Traktoren, die Heimatforschung und das Engagement im "Neusiche Klüeßverein". Letzterer setzt sich übrigens für den Erhalt fränkischer Kartoffelkloß-Tradition ein.

Georg Hummel ist ein wahrer Tausendsassa, wie es viele in Neuses zu geben scheint. Leider neigt sich unser Besuch seinem Ende zu; aber es wird mit Sicherheit nicht der letzte gewesen sein.