Pflegeskandal Gleusdorf: Was taugt ein Noten- system in der Pflege?

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Was taugt das Notensystem in der Pflege? Symbolfoto: Angelika Warmuth, dpa
Was taugt das Notensystem in der Pflege? Symbolfoto: Angelika Warmuth, dpa
 

Nach dem Pflegeskandal Gleusdorf in Unterfranken und der Stellungnahme des Medizinischen Dienstes bleiben noch immer Fragen offen.

"Ich habe ebenfalls unter extrem schlechten Bedingungen gearbeitet, sowohl Personal wie auch Patienten werden schamlos ausnutzt. Die miserablen Pflegeeinrichtungen stehen schon lange unter Beobachtung, weil elementare Bedingungen verletzt und Berichte kaschiert werden. Patienten liegen oft extrem ungepflegt in ihren Betten (samt menschlichem Unrat) und wenn Angehörige sich beschweren, werden ihnen Lügen unterstellt. Leider darf der Medizinische Dienst -angeblich - keine verdeckten Ermittlungen durchführen. Sobald die sich anmelden, werden Einsatzpläne korrigiert und gefälscht, damit die Unterbesetzung oder Verfehlungen verschwinden. Plötzlich sind an diesem Tag zwei Kräfte mehr im Einsatz als sonst üblich."


Dankbar für Enthüllung

Diese Situationsbeschreibung stammt nicht aus Schloss Gleusdorf, sondern von einer Pflegefachkraft, die bei einem freien Träger der Wohlfahrtspflege im Raum Bamberg beschäftigt ist. Der Mann, der nicht genannt werden möchte, weil er Repressalien seines Arbeitgebers fürchtet, sieht dennoch Parallelen zu den Enthüllungen unserer Zeitung im Fall Gleusdorf: "Sie ahnen gar nicht, wie dankbar ich für das Aufdecken eines so dramatischen Skandals bin. Ich arbeite selbst seit vielen, vielen Jahren in diesem Beruf und habe nun das Glück, dieser Tortur mit schwerer Seele noch halbwegs gesund entkommen zu sein."

Ein Stoßseufzer, kein Alleingang. Immer wieder melden sich Pflegekräfte oder Betreuer in unserer Redaktion, um auf Mängel aufmerksam zu machen. Auch aus kirchlichen Einrichtungen. Mängel, die neben krimineller Energie auch im System selbst begründet liegen, wie es jüngst auch Geschäftsführerin Ottilie Randzio vom Medizinischen Dienst Bayern (MDK) bei einer Pressekonferenz in Würzburg einräumte.

Mehrfach sprach sie von "Strickfehlern", die gerade mal die "Spitze eines Eisbergs erkennen" ließen.


Speiseplan versus Geschwür

So seien in Gleusdorf durchaus pflegerische Mängel festgestellt worden, aber durch das Bewertungssystem, das die Vergleichbarkeit von Heimen ermöglichen solle, gebe es Kriterien, die solche Mängel kaschieren. So haben es die Einrichtungsträgern gefordert. Die hätten nämlich gegen die Pflegekassen durchgesetzt, dass auch nachrangige, weiche Faktoren wie z.B. großgedruckter Speiseplan oder Erste-Hilfe-Kursangebote rechnerisch gegen zentrale harte Pflegemängel wie z.B. Druckgeschwüre aufgerechnet werden können. "Das ist so, als könnte ein Autofahrer die TÜV-Prüfung bestehen, weil die gepflegte Lackierung die mangelhaften Bremsen kompensiert."

Beim Notensystem, wie im Pflege-Navigator praktiziert, bedeute schon jede Note, die von 1,0 abweiche, dass irgendwelche Mindestanforderungen nicht erfüllt werden. Gleusdorf wurde zuletzt mit 1,7 benotet, andere Heime in der Region landen gar bei 2,6, werden aber unter der Rubrik "befriedigend" geführt (siehe: www.pflegeheim-navigator.de). Ottilie Randzio: "Schaut euch nicht die Gesamtnote an, schaut in die Einzelbewertungen dahinter. Die Gesamtnote können Sie vergessen."

Der Gleusdorfer Heimleiter indes hatte stets auf die gute Note verwiesen, sie dabei in Stellungnahmen für diese Zeitung sogar von 1,7 auf 1,5 geschönt.

Abgesehen von der Tatsache, dass den MDK-Kontrolleuren nicht ohne Weiteres ein Zutritt zu einem Heim gestattet werden muss, hat auch die Zufalls-Stichprobe Schwächen, wie die MDK-Chefin vor vielen Medienvertretern in Würzburg einräumte.

"Wir sehen nicht alle Bewohner, die wir nach Auswertung der Datensätze gerne sehen würden. Das ist ein Riesenproblem. Wir wissen ja nicht einmal, ob die Liste, die uns die Heimleitung vorlegt, komplett ist." Auch bedürfe es stets einer Einverständnis-Erklärung der Betroffenen oder der Betreuer.

"Auch der Datenschutz macht uns die Arbeit schwer", verteidigte Frau Randzio ihre Mitarbeiter, von denen im Jahr 2016 mindestens acht in Schloss Gleusdorf vorsprachen, gegen Vorwürfe des Versagens oder Wegschauens. "Wir können nicht nachprüfen, ob am Tag zuvor ein falsches Medikament verabreicht wurde. Das stellt im Übrigen eine Körperverletzung dar, verdeckte kriminelle Handlungen, die hätten von den Heimmitarbeitern sofort angezeigt gehört und nicht erst Jahre später. Wir als MDK haben keine polizeilichen Befugnisse."
Auch korrigierte die MDK-Geschäftsführerin aus München einen Passus in einem Gleusdorf-internen Protokoll, wonach der MDK aufgrund von Mängeln einen Aufnahmestopp verhängt habe. "Einen Aufnahmestopp oder gar eine Schließung verhängen kann nur die Heimaufsicht. Das ist aber das allerletzte Mittel, weil das eine Bestrafung der Bewohner wäre, die sich das Heim für ihren letzten Lebensabschnitt ausgesucht haben, wobei wir in Gleusdorf schon eine spezielle Klientel vorfinden. Aber lieber tauscht man doch die Führungsebene aus als die Bewohner."
Auch sei die Schließung ein steiniger Weg durch viele juristische Instanzen.

Dass das Landratsamt seit 2008 für etwaige Aufnahmestopps zuständig sei, bestätigt Monika Göhr, die Behördensprecherin aus Haßfurt. "Grundsätzlich ist die Heimaufsicht beim Landratsamt seit 2008 befugt, Anordnungen bei Mängeln und begründeten Fällen zu treffen. Das kann auch ein Aufnahmestopp sein. Weitere Einzelheiten können wir aber aufgrund des laufenden Ermittlungsverfahrens derzeit nicht mitteilen."


Genaue Kontrolle bei Privatheim

An anderen Stellen schauen die MDK-Besucher genauer hin. Bei der häuslichen Pflege zum Beispiel. Oft wird beckmesserisch um Pflegeaufwand und Euros gerungen, wie sich aktuell am Beispiel eines 57-Jährigen aus dem Landkreis Bamberg zeigt, dem vor eineinhalb Jahren eine unheilbare Krankheit diagnostiziert worden war.

Seit August kämpfte seine Ehefrau, die ihn zu Hause versorgte, um die Einstufung in eine höhere Pflegestufe. Ihr wurden nur 23 Minuten am Tag zugebilligt, in denen sie sich um ihren Mann kümmern müsse. Dies, obwohl sie sich von ihrem Arbeitgeber hatte freistellen lassen, weil sie ihren Ehemann rund um die Uhr umsorgte.

Nach zwei MDK-Besuchen hatte sie jeweils Widerspruch gegen den Bescheid eingelegt. Für 5. Januar hatte sich erneut eine Kommission angesagt. Die braucht nicht mehr zu kommen. Der Mann ist kurz nach Weihnachten verstorben.


Argusaugen bei häuslicher Pflege

Ein anderer Insider aus dem Pflegebereich hält auch wenig vom Benotungssystem für Pflegeheime. "Reine Alibifunktion." Viele Angehörige seien aber selbst schuld. "Bei jedem Pulloverkauf werden erst fünf Stücke anprobiert, aber beim Seniorenheim wählt man das nächstbeste, nur weil es im Dorf liegt, damit die Enkel, die sowieso kaum zu Besuch kommen, keinen so weiten Weg haben."

Dazu empfiehlt eine Berufsbetreuerin: "Gehen Sie einfach in so ein Heim rein, wenn es gleich nach Urin riecht, am besten gleich wieder raus. Wenn jemand auf Sie zukommt und fragt, ob er helfen kann, dann ist das ein gutes Heim. Wenn sich aber niemand um Sie kümmert und Sie noch Bewohner mitnehmen könnten, ist das ein schlechtes Heim. So einfach ist das."


Neue Zuständigkeiten

Eine Fachkraft mit 20-jähriger Berufserfahrung sieht ein großes Manko darin, dass die staatliche Heimkontrolle vor Jahren nach Vorgabe der Staatsregierung von den Bezirksregierungen an die Landratsämter bzw. Verwaltung der kreisfreien Städte delegiert wurde. "An der Regierung saßen echte Fachleute. Damals wusste niemand, wann die auftauchen. Das war ein kompetentes System."

Jetzt aber seien an den Landratsämtern viel zu viele Leute involviert. "Das wissen einfach zu viele Menschen." Die Geschäftsführerin in Gleusdorf wusste angeblich immer, wann die kommen: "Sie sagte mir ins Gesicht, dass sie jemanden beim MDK hat, die ihr Informationen gibt", berichtet die Angehörige eines Heimbewohners.


"Brauchen Pflege-Polizei"

Zudem werden von den Landratsämtern aus zum Teil eigene Einrichtungen, wie dies in Stadt und Landkreis Bamberg der Fall ist, kontrolliert. "Eine Farce", so ein Insider.

Wenn sich schon der MDK, "dieser zahnlose Tiger", nicht als Pflegepolizei sieht, dann müsse eben der Staat dafür sorgen, denn:  "Wir brauchen eine Pflegepolizei - und zwar ganz dringend", meint eine Pflegerin.
Und noch ein Kritikpunkt zielt nach Gleusdorf in Richtung Gesetzgeber. "Wenn die Pflege immer mehr in private Hände wandert, muss man sich nicht wundern, wenn Leute auftauchen, die damit nur Geld verdienen wollen."