Vom Spurenleser zum Zuhörer

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Helmut Will ist ehrenamtlich für den Weißen Ring im Kreis Haßberge verantwortlich. Seine Arbeit im Opferschutz beginnt oft am Telefon. Foto: Dann
Helmut Will ist ehrenamtlich für den Weißen Ring im Kreis Haßberge verantwortlich. Seine Arbeit im Opferschutz beginnt oft am Telefon.  Foto: Dann

Nach einem Verbrechen steht der Täter im Fokus: Wird er verurteilt? Muss er ins Gefängnis? Andere Fragen stellen sich Mitarbeiter des Weißen Rings. Damit sich Opfer nicht allein gelassen fühlen, gibt es Menschen wie Helmut Will.

Eine ältere, bestohlene Dame war sein erster Fall, ein sexuell missbrauchtes Mädchen sein heftigster. Helmut Will kennen einige Bürger als Polizist - jetzt im Ruhestand - oder auch als freien Mitarbeiter, der immer wieder für diese Zeitung bei den Terminen im Kreis Haßberge unterwegs ist. Helmut Will ist außerdem seit fast 20 Jahren Opfer-Helfer beim Weißen Ring.

Wenn das Telefon im Regal in seinem Arbeitszimmer klingelt, geht er entweder gleich selbst ran oder ruft zurück, sobald er die Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört hat - manchmal auch spät in der Nacht, wenn es dringend klingt. Zwischen 15 und 30 Fälle pro Jahr bearbeiten er und seine beiden ehrenamtlichen Kolleginnen im Kreis Haßberge. Drei Fälle wurden ihm bereits über den zentralen Opfer-Telefon-Dienst vom Weißen Ring weitergegeben.

Fälle, die immer in Verbindung mit einer Straftat oder einem Gewaltverbrechen stehen. Oder anders ausgedrückt: Helmut Will kümmert sich um Menschen, die eine Geschichte zu erzählen haben, die ihr Leben seit diesem einen extremen Augenblick belastet und ihren persönlichen Alltag nicht mehr Alltag sein lässt.


Unterschiedliche Verbrechen

So ein Schicksal wäre zum Beispiel: Wenn ein Mädchen, bildhübsch, fast drei Jahre lang sexuell missbraucht und in der Pubertät schließlich rebellisch wird, einen Kampf gegen sich selbst führt, die Schule vernachlässigt, sich ritzt, launisch, abweisend wird. Eine wahre Begebenheit. Wenn Helmut Will von diesem Fall erzählt, erinnert er sich, wie verzweifelt sich die Mutter des Mädchens damals an den Weißen Ring, an ihn, gewandt hat. Auch die Mutter war ein Opfer: Sie musste erfahren, dass sich ihr eigener Vater an ihrer Tochter vergriffen hatte, jahrelang.

Mit Wills Unterstützung und Zuspruch wurde der Großvater angezeigt - und kam sofort in Untersuchungshaft. An die Gerichtsverhandlung von damals muss Will noch heute manchmal denken. An einen Satz ganz besonders. Will konnte es nicht lassen, fragte den Täter bei einer flüchtigen Begegnung auf dem Flur zwischen Gerichtssaal und Gefängniszelle nach dem so oft gesuchten Warum. Er bekam eine Antwort: "Ich wollte halt, dass es nicht mit einem Fremden passiert."

Wenn Helmut Will sagt, dass er mit heftigen Einzelschicksalen gut umgehen kann und einen professionellen Weg gefunden hat, Begegnungen mit Opfern nicht zu nah an sich heranzulassen, kann man dem großen Mann mit grau-weißen Haaren, braunen Augen, roten Backen, in Hemd und Jeans glauben. Er spricht ruhig, verhält sich auch so. Hin und wieder verschluckt er den Teil eines Wortes im Fränkisch, das macht ihn aus, das sagt er selbst. Früher hat er Spuren an Tatorten erfasst, heute hört er den Menschen vor allem zu. Zweifel an der Glaubwürdigkeit einer Geschichte lässt er seine Gegenüber niemals spüren.

Bei dem Gedanken an die Aussage des Mannes damals, da steigt noch immer Wut in dem 65-Jährigen auf, die Backen werden ein bisschen roter und die Tränensäcke ein bisschen schwerer. Wenn es um Kinder und Jugendliche geht, trifft es ihn am stärksten.


Nicht nur Harmonie in der Welt

"Du kriegst halt mit, dass die Welt nicht in Ordnung ist", sagt Will. Trocken, aber nicht zynisch, er weiß es halt. "Und ich bin mir sicher, dass das nur die Spitze des Eisberges ist." Für diese Spitze fungiert Helmut Will als Zuhörer, als Seelsorger. Aber er ist kein Therapeut: Sondern ein vom Weißen Ring geschulter Ansprechpartner, der den Opfern nach Verbrechen zeigt, welche Rechte sie haben und welche Mittel ihnen zustehen. Wenn es um Geldsorgen nach einem Diebstahl oder Einbruch geht, kann Helmut Will nicht nur den Kontakt zu Traumatherapeuten vermitteln, sondern auch Gelder beantragen: "Schnell und unbürokratisch", verspricht er. Dass der Weiße Ring Hilfe ohne Gegenleistung bietet, könnten die wenigsten auf Anhieb glauben.
Alle Formulare aus dem Kreis Haßberge laufen bei Will zusammen und werden in die Zentrale nach Mainz geschickt. Manchmal gibt es Tage, da sitzt der Hauptkommissar außer Dienst den ganzen Tag im Arbeitszimmer und bearbeitet die aktuellen Fälle. Dabei lebt er in seiner Außenstelle noch "in einer relativ heilen Welt", sagt er. Seit fünf Jahren werden die Ehrenamtlichen vom Weißen Ring über die bundesweite Opfer-Telefon-Nummer unterstützt. Unter der 116 006 sind Mitarbeiter in ganz Deutschland erreichbar, die im Schichtdienst anonyme Opfer-Beratung übernehmen. Auf diese Hilfe möchte Will gerne noch mehr Menschen aufmerksam machen und sie darin bestärken, über ihren Schatten zu springen, stark zu sein, sich Hilfe zu suchen. Denn, wie schon erwähnt, die Menschen, denen er bisher helfen konnte, die sind wohl nur "die Spitze des Eisberges".