Torsofund: Die Karteileiche von Knetzgau

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Das ist Mažeikiai . Aus dieser Region stammt der unbekannte Tote.
Das ist Mažeikiai . Aus dieser Region stammt der unbekannte Tote.
Am Main-Kraftwerk Knetzgau hatte ein Mitarbeiter den Torso entdeckt. Der Tote hing im Rechen, mit dem Treibgut aus dem Fluss gefischt wird.
Am Main-Kraftwerk Knetzgau hatte ein Mitarbeiter den Torso entdeckt. Der Tote hing im Rechen, mit dem Treibgut aus dem Fluss gefischt wird.
 
Mit Leichensuchhunden suchte die Polizei im Main nach den Armen, Beinen und dem Kopf des Toten.
Mit Leichensuchhunden suchte die Polizei im Main nach den Armen, Beinen und dem Kopf des Toten.
 
Karl-Heinz Schmitt, der Polizeisprecher, zeigt die grüne Plane, in die der Torso eingewickelt war.
Karl-Heinz Schmitt, der Polizeisprecher, zeigt die grüne Plane, in die der Torso eingewickelt war.
 
Ende Mai 2003 ist der Torso auf dem Knetzgauer Friedhof beigesetzt worden. Bis heute ist nicht bekannt, wer der Tote ist. Fotos: Archiv
Ende Mai 2003 ist der Torso auf dem Knetzgauer Friedhof beigesetzt worden. Bis heute ist nicht bekannt, wer der Tote ist.  Fotos: Archiv
 

Im nächsten Jahr jährt sich zum zehnten Mal der Fund des Torsos am Main-Kraftwerk in Knetzgau. Das grausam verstümmelte Mordopfer hat bis heute keinen Namen, aber inzwischen immerhin eine Heimat-Adresse: Der Mann starb vermutlich im Umfeld der litauischen Drogenmafia.

1 bis 220: Nach diesem Schema hat die Kriminalpolizei in Schweinfurt die Spuren in ihrem wohl spektakulärsten ungeklärten Mordfall sortiert. Spuren, die nach fast zehn Jahren noch immer nicht zum Täter geführt haben. Der Torso aus dem Main bei Knetzgau ist nach wie vor nur eine DNS-Sequenz. Der genetische Fingerabdruck hat schon viele Verbrecher überführt, im Fall Knetzgau aber noch nicht einmal dem Opfer einen Namen gegeben.

Wer war der Mann, der vermutlich am 10. Mai 2003 mit Dutzenden Messerstichen ermordet wurde? Warum musste er sterben? Warum haben der oder die Täter alles getan, um die Identifizierung des Opfers zu erschweren? Nicht nur der Kopf der Leiche wurde abgetrennt, sondern auch die Arme und die Beine - möglicherweise wegen markanter Tätowierungen? Wo geschah die Bluttat?

Das waren die Fragen, die im Sommer 2003 schon Herbert Markert zu beantworten versuchte, der damals die Sonderkommission
"Torso" leitete. Die Leiche lag etwa drei Tage im Wasser, bevor sie am 13. Mai 2003 am Kraftwerk angespült wurde. Ein Mitarbeiter von Eon Wasserkraft, dem Kraftwerksbetreiber, hatte das verdächtige Bündel entdeckt, als er den Metallrechen am Einlaufschacht des Kraftwerks mit einem Kran vom Schwemmgut befreite. Treibholz, Plastikabfälle und, nicht zum ersten Mal, eine Leiche.

Schon auf den ersten Blick war aber damals klar, dass dieser Mensch nicht freiwillig oder durch einen Unfall aus dem Leben geschieden sein konnte. Der unbekannte Täter hatte Kopf, Arme und Beine abgetrennt und den Rumpf in einem Sack verpackt, der halbwegs fachmännisch aus einer grünen Gartenplane genäht worden war.

Die Art und Weise, wie die Schnüre verknotet worden waren, lieferten der Polizei bei der fieberhaften Spurensuche in den folgenden Tagen den ersten konkreten Anhaltspunkt für einen möglichen Tatort. "Es waren Knoten, wie sie von Seeleuten genutzt werden", erinnert sich Karl-Heinz Schmitt, 2003 in der Polizeidirektion in Schweinfurt mit dem Fall befasst und heute Pressesprecher des Polizeipräsidiums Unterfranken.

Die Fahndung konzentrierte sich in den Tagen nach dem Leichenfund auf den Main und auf die Schiffe, die zum mutmaßlichen Tatzeitpunkt Knetzgau passiert hatten - und bescherte der Sonderkommission "Torso" ihren aufregendsten Moment, der sich auch in das Gedächtnis von Herbert Markert eingegraben hat. Unsichtbare Blutspuren kann die Polizei mit ultraviolettem Licht sichtbar machen. Es gibt keine Reinigungsmethode, die so gründlich ist, dass Blut auf diese Weise nicht entdeckt werden könnte.

Auf einem der Main-Frachter, der als möglicher Tatort in Frage hätte kommen können, sprangen den Fahndern im UV-Licht großflächige Leuchtspuren ins Auge. Blut? Überdies war auf dem Schiff ein Matrose als vermisst gemeldet worden. Volltreffer?

Der vermeintliche schnelle Fahndungserfolg entpuppte sich schnell als Schlag ins Wasser. Der verschwundene Matrose tauchte wieder auf, und die "Blutspuren" wurden bei näherer Untersuchung als Eisenoxid identifiziert: Rost - der Frachter hatte bei einer früheren Fahrt Schrott transportiert. Die wissenschaftliche Erklärung: Die UV-Methode spricht auf den roten Blutfarbstoff an, und der enthält als wesentlichen Bestandteil Eisen.

Trotz dieses Rückschlags gab die Polizei nicht auf. "Mord verjährt nicht. So eine Akte wird niemals geschlossen", sagt die Polizei.

Deshalb wurden in der Folge 2003 Spezialisten des Landeskriminalamtes bemüht, um der Leiche ohne Kopf zumindest Konturen zu geben. Der genetische Fingerabdruck ist eine sichere Methode, um einen Menschen zweifelsfrei zu identifizieren. Wie weit die Wissenschaft dabei der Polizei zur Hand gehen darf, wird in diesen Tagen erst wieder diskutiert: In Niedersachsen war ein 19-jähriger Triebtäter nach einem Massen-DNS-Test überführt worden. Allerdings war der Verdächtige selbst bei dem Test nicht erfasst worden, sondern nur zwei seiner unmittelbar Verwandten. Diese Spur führte die Polizei zum Täter - das geht zu weit, hat der Bundesgerichtshof jetzt entschieden.

Im Fall Knetzgau stellt sich die Frage (noch) nicht: Die Ermittler haben zwar ein präzises DNS-Profil des Mordopfers, ihnen fehlt aber das Vergleichsmaterial - der berühmte Kamm mit den Haaren oder die Zahnbürste, die im Fernsehkrimi regelmäßig die heiße Spur zum Täter liefert. Ob am Torso fremde DNS gesichert werden konnte, unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, nachdem die Leiche rund drei Tage im Main lag, ist eine Frage, die die Polizei nicht beantwortet. Damit käme man dem Täter auf die Spur.

Bis dahin wäre man erst einmal froh, dem Toten aus dem Main einen Namen und ein Gesicht geben zu können. Die Hoffnung richtet sich darauf, dass die Methoden, die die Wissenschaft der Kriminaltechnik liefert, immer feiner werden. Schon unmittelbar nach dem Leichenfund erstellten Fachleute des Landeskriminalamtes neben dem genetischen Fingerabdruck ein zweites Profil des Opfers. Das beruht darauf, dass ein Mensch im Laufe seines Lebens über die Nahrung auch radioaktive Stoffe zu sich nimmt: Radioaktivität ist ein natürliches Phänomen, viele Stoffe, die Bestandteil organischer Substanzen sind, haben radioaktive Varianten (Isotope), zum Beispiel das lebenswichtige Spurenelement Jod.

Die radioaktive Umwelt ist nicht überall auf der Welt gleich. Der Anteil der radioaktiven Isotope unterscheidet sich von Region zu Region erheblich und gibt jedem Landstrich ein eigenes radioaktives Profil. Das findet sich in den Menschen wieder, die in dieser Region aufwachsen. Was in wenigen Sätzen so einfach klingt, ist in Wirklichkeit ein "hochkomplizierter Vorgang", sagt der Geochemiker Peter Horn (Uni München), der die Methode mit entwickelt hat.

Aus weltweit gesammelten Daten haben die Experten in München eine Isotopen-Karte entwickelt, aus der man beim Abgleich der Daten aus Proben auf die Herkunft des untersuchten "Materials" schließen kann. Die Karte wird laufend aktualisiert und fortgeschrieben mit dem Ergebnis, dass die Suche immer weiter verfeinert wird.

Die Methoden der Untersuchung gründen auf Indizien, wie Horn beschreibt. Einer der vielen Parameter ist Blei. Das Benzin westeuropäischer Autos war bis 1989 mit Blei versetzt, das aus Australien stammte. Dieses Blei findet sich noch heute überall: im Straßenstaub, in der Nahrungskette - und in Leichen.

Es unterscheidet sich signifikant von osteuropäischem Blei, und so war schon 2003 der erste Baustein gefunden, um die Herkunft der Knetzgauer Leiche einzugrenzen. Über weitere Elemente konnten die Kriminalisten am Ende ermitteln, dass der Tote aus dem Main bei Knetzgau in einer ländlichen Gegend mit relativ wenig Autoverkehr geboren wurde und aufwuchs, und zwar vermutlich im nördlichen Russland oder in Lettland. Etwa einen Monat vor seinem Tod verließ er seine Heimat und reiste nach Deutschland, wo er dann gewaltsam zu Tode kam.

Auf Grundlage der wachsenden Datenbasis weiß man heute sogar recht präzise, wo der Tote auf dem Main aufgewachsen ist: Es handelt sich um die Großgemeinde Mažeikiai im Nordwesten des Baltikum-Staates Litauen. Der gleichnamige Hauptort hat 40 000, die Großgemeinde 65 000 Einwohner. Hier oder im unmittelbaren Umfeld muss der unbekannte Tote aufgewachsen sein.

Trotz intensiver Zusammenarbeit mit den Behörden in Litauen und dem Abgleich mit Vermisstenfällen dort ist es bisher nicht gelungen, aus der warmen eine heiße Spur zu machen; eine DNS-Reihenuntersuchung kommt nicht in Frage, schon wegen der Größe des Untersuchungsgebietes nicht, aber auch aus rechtlichen Gründen: Man fahndet ja nicht nach einem Täter, sondern nach einem Opfer.

Das aber wohl auch Täter war. Nach Deutschland kam der Mann sicher nicht als Tourist. In den letzten zehn Jahren gab es bundesweit immer wieder spektakuläre Schläge gegen die osteuropäische Drogenmafia, und Litauen gilt trotz (oder wegen) der dort sehr strengen Anti-Drogen-Gesetze als eine Hochburg des Handels unter anderem mit Heroin. Im Sommer 2003 war eine litauische Bande in Süddeutschland aktiv. Unter anderem im Bamberger und Würzburger Raum fielen die Dealer auf. Dass es in diesem Milieu nicht sehr zimperlich zugeht und ein Menschenleben nicht viel gilt, ist keine Schauergeschichte. "Da springt schon mal einer wegen ein paar hundert Euro über die Klinge", heißt es bei der Kriminalpolizei.

Es spricht vieles dafür, dass der Mann aus Mažeikiai der Drogenmafia in die Quere kam, sei es als Kunde, der nicht zahlen wollte, oder als Händler, der seine eigenen Geschäfte aufziehen wollte. Das war sein Todesurteil. Der Tatort wurde bis heute nicht gefunden, Kopf, Arme und Beine sind ebenfalls verschwunden. Der Tote aus dem Main war zwischen 20 und 30 Jahre alt, 1,85 Meter groß, um die 80 Kilogramm schwer und sportlich-muskulös.
Man weiß so viel von ihm: Geboren in Mažeikiai, hatte der Mann etwa vier Wochen vor seinem gewaltsamen Tod seine Heimat in Osteuropa verlassen. Als er getötet wurde, hatte er 1,08 Promille Alkohol im Blut. Seine letzte Mahlzeit bestand aus Fleisch und Gemüse. Es fehlt bis heute: sein Name.