Jedes Mal, wenn Roswitha F. ihre Mutter in der Senioren-Wohngemeinschaft in Knetzgau besucht, ist weniger von ihr da. Ihre Tochter erkennt die 90-Jährige noch. Die Altenpfleger verwechselt sie. Und die Nachricht vom Tod ihres Mannes entsetzt die Frau jedes Mal so, als wäre es eben passiert.
Mit dem Tod ihres Mannes verlor Sofie B. nicht nur ihren Gefährten. Seitdem fehlt ihr auch der Beschützer, der ihre Demenz als Vergesslichkeit tarnte und sie in den letzten Jahren durchs Leben bugsierte. Alleine kommt die Frau aus den Haßbergen nicht mehr zurecht.
Darum ist ihre Tochter Roswitha F. (die ihren vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will) sehr froh darüber, dass ihre Mutter im Mai einen Platz in der Senioren-Wohngemeinschaft in Knetzgau bekommen hat. Dort erhält sie die nötige Hilfe, Unterstützung und vor allem Zuwendung. Und kann trotzdem selbstbestimmt leben. Denn die Bewohner beziehungsweise ihre Angehörigen bestimmen in einem Gremium die Rahmenbedingungen des betreuten Lebens in der Gemeinschaft.
"Das ist mir sehr wichtig", erklärt Roswitha F.. Doch die Mutter, wie sie sie kannte, geht ihr trotzdem jeden Tag ein Stückchen mehr verloren.
"Mein Vater war trotz seiner schweren Krankheit geistig voll fit und hat alles organisiert. Zusammen haben sie ihr Leben super gemeistert", erinnert sich die 64-Jährige an die Zeit vor gut zwei Jahren zurück. Bis dahin führten ihre Eltern einen eigenen Haushalt. Natürlich hätten sie und ihre Schwester gemerkt, dass im Gedächtnis der Mutter immer größere Lücken klafften. "Aber mein Vater gehörte der Kriegsgeneration an. Er wollte alles selber machen. Darum durften wir Kinder uns nicht zu sehr einbringen. Aber es hat alles gut geklappt - bis er gestorben ist."
Nach Minuten ist alles vergessen Der Tod hat der Krankheit von Sofie B. einen Schub versetzt.
"Das beobachtet man sehr häufig beim Tod eines geliebten Menschen", erklärt Angelika Krines. Die Gerontopsychiatrische Pflegefachkraft bringt viel Wärme und Humor in die Wohngemeinschaft. "Gell Frau B., wir kennen uns schon gut", sagt sie und stupst Sofie B. in die Seite. Die schaut die rothaarige Altenpflegerin kurz prüfend an.
Dann klärt sich ihr Blick. "Ja freilich. Seit Jahren!", erwidert sie dann und klopft wie zur Bestätigung mit der flachen Hand auf den Tisch. Roswitha F. und die Pflegekraft wechseln einen amüsierten Blick. "Meine Mutter verwechselt Angelika Krines mit der Friseurin, bei der sie jahrelang war", erklärt die Tochter. Dann spricht sie wieder über ihren Vater, der als Kriegsflüchtling aus Pommern in den Itzgrund kam und seine Sofie auf dem Tanzboden kennenlernte.
Verzweiflung schnürt die Kehle zu "Was ist mit dem Papa?", schaltet sich
Sofie B. plötzlich ins Gespräch ein. "Wo ist er?" Roswitha F. beugt sich zu ihrer Mutter, tätschelt ihren Arm. "Mama, der Papa ist doch gestorben. Weißt Du nicht mehr?" Ein leiser Schreckensschrei. Dann schlägt sich Sofie B. die Hand vor die Stirn. Ihre Verzweiflung schnürt einem die Kehle zu. Wieder schlägt sie mit der flachen Hand auf den Tisch. "Der Papa, das war ein Guter", sagt sie. Dann zieht sie Angelika Krines` Kaffeetasse zu sich heran (ihre Tasse ist leer) und verlangt nach ihrem Strickzeug.
Zwei Minuten später wiederholt sich die Szene und Sofie B. durchlebt den Schmerz aufs Neue.
"Die Vergesslichkeit ist bei ihr extrem", erklärt Fachkraft Angelika Krines später. Mit den Erinnerungen kommt und geht auch das Selbstbewusstsein der Seniorin. Mal ist sie bestimmend und temperamentvoll, mal hadert sie mit ihrer Hilflosigkeit.
Mit der Zeit wird das Lächeln von Roswitha F. dünner.
Es strengt sie an, ihre Mutter so zu sehen. Auch wenn sie es sich nicht anmerken lässt. Mit Engelsgeduld erklärt sie ihr wieder und wieder, wo sie sich befindet und "wer die Leute" (die Mitbewohner der Senioren-Wohngemeinschaft) sind. "Es ist ein langsames Abschiednehmen", sagt sie. "Das Schlimmste wäre, wenn sie mich nicht mehr erkennt."