Am 9. November fiel die Mauer. Die Grenzöffnung hatte aber Tage, Wochen vorher begonnen - und in einer fränkischen Kleinstadt war nichts mehr wie vorher.
Die Invasion aus dem Osten kam aus dem Süden und nicht in gepanzerten Kettenfahrzeugen. Trabis und Wartburgs rollten auf Eberns Balthasar-Neumann-Kaserne zu. Sie hatten einige Stunden Vorsprung. Am 9. November 1989, als abends die Mauer fiel, hatte die Grenzöffnung im Baunachgrund schon begonnen. Seit dem Sommer flüchteten DDR-Bürger vor allem über Ungarn und die Tschechoslowakei in den Westen. Am 3. November gab DDR-Staatsratsvorsitzender Egon Krenz dem Drängen der CSSR nach und ließ die DDR-Bürger in der Prager Botschaft direkt in die BRD ausreisen.
Die DDR-Übersiedler, die aus Richtung Tschechoslowakei gen Westen strömten, hatten in einem Auffangzentrum bei Deggendorf kopierte Pläne in die Hand gedrückt bekommen, die ihnen den Weg nach Ebern wiesen. Ausgerechnet in eine Militäranlage, diesen kleinen Mosaikstein der westlichen Abschreckung.
Dort hatten Bundeswehr und Rotes Kreuz binnen weniger Stunden einen Meldekopf und Quartiere eingerichtet, die vier Tage lang die erste Heimat der meist jungen Ostfamilien in der Freiheit werden sollten. Einige blieben in der Region, viele fanden Aufnahme bei Verwandten oder Bekannten in der gesamten Bundesrepublik, der Rest wurde nach Hammelburg weitergeleitet.
Wie schnell eine Trabantenstadt entsteht
Über Nacht war in Ebern nichts mehr so wie vorher. Aus der eher verschlafenen Kleinstadt war eine Trab(i)antenstadt geworden. Murrige Franken, die Jahrzehnte lang ihr Schicksal im Schatten des Eisernen Vorhanges beklagt hatten, entdeckten ihre Freundlichkeit wieder, Soldaten versenkten ihr Feindbild. Die Trabis tuckerten durch die engen Gassen in Richtung Ämtergebäude, wo es Informationen und Begrüßungsgeld gab. Die Wachen, die sonst jeden Fahrer kritisch beäugten, öffneten den Zweitaktern freundlich den Schlagbaum. Der Aldi-Markt meldete "Belagerungszustand" - und keiner schimpfte in der langen Warteschlange an der Kasse über die Übersiedler aus dem Osten.
Da wehte ein Hauch von Weltgeschichte durch die Stadttore - und auch für Zeitungsredakteure in der Provinz waren es turbulente Zeiten. Noch am Abend des 9. November ging es aus der Lokalredaktion ab in die Zentrale nach Bamberg, die Bilder auswählen, einen Kommentar schreiben. Da herrschte noch Unverständnis und es war unbefriedigend, dass ein junges Paar für die knapp 30 Kilometer zwischen Heldburg und Ebern den Umweg über Tschechien wählen musste.
Und dann der Aufschrei des Kollegen aus der Politik-Redaktion auf dem Büroflur: "Die machen die Grenz' auf!" Dem ungläubigen Staunen folgte der Blick auf die Live-Schaltungen am Fernseher und den Fernschreiber. Kommentar umschreiben: "Was vor Wochen noch unvorstellbar war, wurde Realität ...". Es folgten aufregende Tage und Wochen.
Dazu gehörte auch Amtshilfe für die Bundeswehr. Da die Kommando-Stäbe in Ebern 1989 noch nicht über Faxgeräte verfügten, wurde der Presse-Verbindungsoffizier seiner Dienstbezeichnung gerecht und pendelte mehrmals am Tag von der Kaserne in die FT-Redaktion, um mit deren Faxgerät die Erfassungsbögen an eine Rot-Kreuz-Koordinationsstelle im Raum Karlsruhe zu schicken, um Familien zusammenzuführen, die sich im Verlauf ihrer Odyssee verloren hatten.