Wenn das Gedächtnis spazieren geht

4 Min
Spazierengehen gehört für viele Senioren zu ihrem Alltag dazu. Eine ältere Frau, die an Demenz erkrankt ist, beschrieb ihren Umstand einmal mit den Worten: Es sei, als ob das Gedächtnis spazieren gehen würde. Symbolfoto: epd
Spazierengehen gehört für viele Senioren zu ihrem Alltag dazu. Eine ältere Frau, die an Demenz erkrankt ist, beschrieb ihren Umstand einmal mit den Worten: Es sei, als ob das Gedächtnis spazieren gehen würde. Symbolfoto: epd
 

Die Zahl der Menschen, die sich im Alter nicht mehr an ihr eigenes Leben - oder nur noch an Bruchstücke davon - erinnern können, wird steigen. Demenz gilt als Volkskrankheit und wird durch immer mehr ältere Menschen in der Gesellschaft zu einer der Herausforderungen der Zukunft.

Eine sture, beinahe bockige Dame mit weißgrauen Haaren und tiefen Falten im Gesicht, die unbedingt dieses eine bestimmte Paar Schuhe - wenn auch noch so farblich unpassend zum restlichen Gewand - anziehen will, mag mit ihrem Verhalten an die Trotzphase eines Dreijährigen erinnern, hat aber dennoch nichts mit ihm gemein. Oder anders gesagt, einiges voraus: Lebenserfahrung.
Und genau deshalb hat eine alte Frau in eben so einem denkbaren Szenario eines verdient von ihrem Gegenüber - möge die Situation auch noch so skurril und die Kleidung noch so unpassend sein: Respekt. "Respekt vor der Lebensleistung", sagt Claudia Zankl. Dieser Satz ist ihr so wichtig, dass sie ihn immer wieder fallen lässt, wenn man mit ihr über Demenz im Alter spricht.


Barrieren sind im Kopf

Zankl arbeitet bei der Sozialstiftung im Bruderwald als Gesundheits- und Krankenpflegerin. Sie setzt sich auch in ihrer freien Zeit für ältere Menschen ein, vor allem für die, deren Gedächtnis im Alltag immer mal wieder spazieren geht. Für diese Formulierung, die Zankl selbst vor einigen Jahren im Gespräch mit einer demenzkranken Frau aufschnappen konnte, ist sie sehr dankbar, wie sie erklärt. Denn, so blumig, beinahe harmlos und dennoch treffend, kann es vermutlich nur ein Betroffener selbst ausdrücken. Zankl lernt Demenzkranke und die Menschen, die ebendiese pflegen und in Krankheit begleiten, kennen. Sie ist Mitglied der Alzheimer Gesellschaft Bamberg, ein Verein, der sich seit 2006 als Regionalgruppe darum bemüht, auch in Bamberg - in Stadt und Landkreis - offen über die Krankheit zu sprechen, die in den kommenden Jahren immer mehr Menschen in ihrem Alltag verändern wird. Aus diesem Grund hat auch Sina Wicht, Generationenbeauftragte am Landratsamt Bamberg, vor drei, vier Jahren zum Telefonhörer gegriffen und eine Verbindung zur Alzheimer Gesellschaft aufgebaut. Schnell wurde das größte Anliegen deutlich: All die Anlaufstellen, die es in der Region gibt, müssen gebündelt aufbereitet werden, damit die Betroffenen wissen, an wen sie sich wenden können. Entstanden ist aus der Idee der "Wegweiser Demenz", ein Heft mit allen möglichen Angeboten im Landkreis Bamberg, zusammengefasst von der Demenzinitiative.
Dazu gehören auch Kurse, eher Crashkurse, die Angehörigen wie Verkäufern, Optikern und anderen Dienstleistern einen Eindruck davon vermitteln sollen, was die Krankheit Demenz für Spuren hinterlässt. "Eine Idee von dem Krankheitsbild" gewinnen, um respektvoll mit dem Menschen, möge er auch noch so verwirrt sein, umgehen zu können.
Anders als bei Rollstuhlfahrern, Hörgeschädigten oder Blinden sind die Barrieren für Demenzkranke im Kopf aufgebaut. Versagensängste, Ängste vor scheinbar alltäglichen Situationen, die sie aber nicht mehr bewältigen können, plagen die demenzkranken Menschen.
Allein in Stadt und Landkreis Bamberg rechnet der Gesundheitsreport Bayern (3/2014) damit, dass es im Jahr 2032 im Landkreis 3500 statt 2100 (Stand 2012) geben wird und in der Stadt die Zahl aus dem Jahr 2012 1400 auf 1900 im Jahr 2032 steigen wird - eine prozentuale Veränderung um 67 Prozent im Landkreis. Wenn der Medizin kein Durchbruch in Sachen Therapie oder Prävention gelingt, wird sich laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft die Krankenzahl bis 2050 auf etwa drei Millionen erhöhen - und somit zum aktuellen Stand verdoppeln. Umgerechnet würde das bedeuten, dass in 30 Jahren täglich mehr als 100 Menschen in Deutschland erkranken.


Doppelbelastungen nehmen zu

Die Folge ist absehbar: Es wird immer mehr Menschen geben, die auf Hilfe angewiesen sind. Doch gleichzeitig schrumpft die Generation weg, die Hilfe leisten kann. Noch dazu kommt: Immer weniger Schulabgänger entscheiden sich für Pflegeberufe. Und zwischen einer Mutter und ihrer Tochter liegen heutzutage oft viele Kilometer und nicht mehr nur ein Stockwerk, wie in früheren Mehrgenerationenhäusern. Um so wichtiger sei es, Menschen mit Demenz nicht auszuschließen, ihre Angehörigen nicht alleine zu lassen. Denn: "Demenz wird Normalität", sagt Wicht.
Eine Herausforderung, die damit einhergeht: "Angehörige müssen sich verändern, Patienten werden durch die Krankheit verändert", erklärt Zankl. Deshalb sei es besonders wichtig, für diese Menschen da zu sein, ihnen zu vermitteln, Hilfe annehmen ist vollkommen in Ordnung - sei es durch Tagespflege oder stundenweise durch ehrenamtliche Helfer. Nur auf "dem Boden der Annahme" könnten immer wieder Momente der Freude gesammelt werden, selbst wenn mit der Diagnose Demenz bereits dann ein Trauerprozess beginnt, wenn der geliebte Mensch noch lebt. "Es ist eine ausgewiesene Kompetenz, sich Hilfe zu suchen und kein Versagen", sagt Wicht. Zankl rät Angehörigen, die Nachbarschaft, das nähere Umfeld - Metzger, Bäcker, Friseur - über die Krankheit zu informieren. So könnten Missverständnisse und Nachbarschaftskrisen vermieden werden. Denn: Ein Mensch mit Demenz verändert sich, das ist nicht "einfach nur das Alter", und: "Es ist auch nicht normal." Zankl weiß: "Je kleiner der Ort, desto größer ist das Tabu." In einer Stadt wie Bamberg falle einem das Auto der Tagespflege nicht direkt vor einem Mehrgenerationenhaus auf, da sei es schon normal. Doch, ob das wirklich so viel einfacher, oder einfach nur anonymer ist, gibt Wicht zu bedenken. Klar ist, dass kleine Ortschaften gut zusammenhalten, sich einander helfen können. Auch für sie muss ein Bewusstseinswandel stattfinden. Und jeder, der in seinem aktuellen Umfeld noch keinen Menschen kennt, der an dieser neuen Volkskrankheit leidet, werde laut den beiden irgendwann davon profitieren, sich rechtzeitig mit dem Thema auseinandergesetzt zu haben. Vermessen, das sei es, davon auszugehen, dass es nur die anderen trifft. Aufhalten, heilen, das lässt sich die Krankheit (noch) nicht. Auch deshalb lohne es sich, Prioritäten zu setzen - bei einer verrückten Schuhwahl ein Auge zuzudrücken -, einen Menschen nicht nur an seiner Leistung zu messen, sondern den Wert, "das Menschsein achten", wieder in den Vordergrund rücken. Um sich gegebenenfalls für andere Menschen daran zu erinnern, was hinter ihnen liegt: "Es geht um den Respekt gegenüber der Lebensleistung. Auch wenn er diese selbst vergessen hat."