Markus Häggberg Er ist da. Derzeit. Unter uns. Am Obermain. Er ist nicht der Antichrist. Nicht direkt. Denn was er sagt, ist eigentlich zu kurz gegriffen. Der Mann schimpft gegen Religion an sich, hat...
Markus Häggberg Er ist da. Derzeit. Unter uns. Am Obermain. Er ist nicht der Antichrist. Nicht direkt. Denn was er sagt, ist eigentlich zu kurz gegriffen. Der Mann schimpft gegen Religion an sich, hat aber nur ein Rezept zur Abkehr vom Christentum parat. Um mich selbst nicht ins falsche Licht zu rücken, hole ich besser weiter aus. Also das war so: Vor Tagen spazierte ich in eine Eisdiele. Ich wollte mit mir alleine sein und Leute belauschen. Wenn es regnet, stehen die Chancen dafür besser. Was das Belauschen anbelangt, so weiß ich wohl, dass man das nicht macht. Meine Oma vertrat diese Ansicht immer und als ich einmal doch lauschte, bekam ich eine gescheuert.
Als auf meinem Gesicht die leise Frage auftauchte, warum das Lauschen denn nun wirklich so ungehörig ist, bekam ich gleich noch eine hinterher gescheuert. Mehr Aufklärung gab es nicht und so ist es mir natürlich ein Rätsel geblieben, worin die Ungezogenheit besteht. Mittlerweile will es mir sogar scheinen, als ob das Belauschen von Gesprächen gar gesellschaftlich geächtet ist. Aus eben diesem Grunde tarne ich meine Absichten, esse Eis, gebe vor, die Zeitung zu lesen, und tue unbeteiligt. Manchmal gucke ich in die Luft, schürze die Lippen und pfeife dabei. Unweit von mir saßen zwei Männer mittleren Alters. Laut Bibel also gerade jung genug, um schon des Todes zu sein. Mit dieser halbwegs geglückten Hinleitung komme ich zum Gespräch selbst, welches die beiden Männer führten. Es drehte sich um das Christentum und darum, dass "die Kirche" so viel Schuld auf sich geladen hat. Dann wurde aufgezählt: Hexenverbrennungen, Kreuzzüge, Hexenverbrennung, Kreuzzüge, Kirchensteuer, Hexenverbrennungen, Missbrauchsvorfälle und Hexenverbrennungen.
Und es ginge nur um Geld, Geld, Geld. Auch wurde bedauert, dass Menschen, die aus der Kirche austräten, überhaupt keine Möglichkeit hätten, sich wieder in einen Urzustand zurückversetzen zu lassen. Es gibt kein feierliches Ritual, welches den Menschen wieder zum Heiden macht. Und eben das sei schade und also gebe es ... einen Markt. Als dieses Wort fiel, bekam ich einen Hustenanfall und einer der beiden Männer einen Gesichtsausdruck, als habe er eine Marienerscheinung. Das Gesicht des Mannes wirkte geradezu verklärt, beinahe wie beim hl. Sebastian, wenn er, zwar von Pfeilen durchbohrt, in der Ferne etwas Gutes zu erkennen glaubt. Oder sieht.
"Man bräuchte ein Ritual", so der eine Mann zum anderen. Dabei bekam sein Gesichtsausdruck etwas Verschlagenes. Der andere Mann jedenfalls legte die Stirn in Falten. Dann, plötzlich, fiel ihm das Schlagwort ein: "Enttaufung!" So eine Enttaufung, so der Wortschöpfer, sollte dann aber von einem Zelebranten in weißem Gewand vorgenommen werden. Auch bedürfe es ganz klar einer Liturgie, welche die Menschen stimmungsvoll auf das gleich passierende große Ereignis der Rückführung in die "Heidenreinheit" (noch so ein Wort) einstimmen sollte. Bei dieser Gelegenheit erinnerte der eine Mann den anderen daran, wie viele esoterisch angehauchte Frauen ihm schon damit in den Ohren gelegen hätten, dass sie im Mittelalter ganz bestimmt als Hexen verbrannt worden seien. Heute hingegen sei ihre Haarfarbe erlaubt. Von der "Heidenreinheit" jedenfalls versprachen sich die beiden Männer im Sinne möglicher Kunden" das Verkaufsargument Kirchensteuerersparnis. Ab diesem Moment (ich kann es nicht genau sagen, im Radio lief "Such a Shame" von Talk Talk und da höre ich auch immer gerne hin) bekam die Unterhaltung eine Wendung ins Betriebswirtschaftliche. Und das kam so: "Wenn man einmal die Heidenreinheitsgebühr bezahlt, ist das immer noch billiger als (der Mann überschlug gedanklich eine Summe) drei Jahre Kirchensteuer", so einer der Männer. "Ja, ist das denn nicht vielleicht trotzdem ein bisschen zu hoch?", wollte der andere nun wissen und wurde gleich aufgeklärt: "Was keinen Preis hat, hat für viele Leute auch keinen Wert." Außerdem, das komme natürlich auf die Anzahl der Bewerber an, müsse davon ja auch ein Festsaal angemietet werden. Wichtig sei nur, dass am Ende die Kohle stimme und man selbst vom Enttaufen sauber leben könne. In diesem Moment gerann der Idealismus endgültig zur bezahlbaren Größe. In dem festen Glauben, besser als das Kritisierte zu sein, verließen die Männer lachend das Eiscafé. Trinkgeld gaben sie keines.