"Klar, das Friseurgeschäft ging so nicht mehr", sagt Thomas Wagner. Seine Mutter und seine Tante waren zuverlässig alle 14 Tage zur Dauerwelle "beim Kuno" im benachbarten Friseursalon angetreten. Zweimal die Woche ging es zum Kämmen. Doch nun blieb eine ganze Generation potenzieller Kunden einfach aus.
"Das Aufbegehren der Jugend hat man im Salon gar nicht mitgekriegt", weiß Wolfgang Zirbik zu berichten, heute Senior-Chef eines Friseur- und Kosmetiksalons in der Eberner Innenstadt: "Die Woodstock-Generation ist überhaupt nicht mehr zum Haareschneiden gegangen. Das Wort Friseur hat für die 68er doch gar nicht existiert."
Zirbik, Jahrgang 1952, hat diese Zäsur im elterlichen Salon intensiv mitbekommen, ehe es ihn selbst zur Ausbildung ins Ausland zog: "Das war eine grandios durchgefallene Geschäftszeit damals". "Richtig existenzbedrohend war das", bestätigt Hubert Brückner, "eine echte Krise für unser Handwerk". Er erwog seinerzeit, zum Masseur umzusatteln. Ist aber heute froh, seinem Traumberuf treu geblieben zu sein.
Generationenkonflikte
Streitigkeiten um die Haarlänge der Kinder haben Friseure zu dieser Zeit zuhauf erlebt, oft gab es Tränen. Manche Eltern zwangen ihre Kinder gewaltsam auf den Friseurstuhl. "Das war immer blöd", sagt Ruheständler Brückner, "als Friseur sitzt du da immer zwischen zwei Stühlen". Die Eltern zahlen, die Kinder aber tragen die Frisur auf dem Kopf."
Ratzfatz war das Problem im Fall des Heinz Dietz 1971 gelöst. Als älterer Spross aus einem Eberner Autohaus damals schon schnittig, wollte er, kaum den Führerschein in der Tasche, mit dem Commodore GSE zur Freundin nach Schottenstein fahren. Den Vater jedoch störten die Zotteln des Sohnes. Er drückte ihm fünf Mark in die Hand und so ging es zunächst zum Friseur und erst dann mit bis über den Kragen gekürztem Haar und 160 PS in den Itzgrund. "Die Haare hab ich geopfert, die mussten weg", sagt Dietz. Ein Foto des heutigen Chefs im Opel-Autohaus mit langer Haarpracht gab es nur im Führerschein. Doch der wurde geklaut.
Aus Wut erschlagen
So einvernehmlich ging der Generationenkonflikt längst nicht immer ab: Hubert Brückner erzählt die tragische Geschichte eines hohen Offiziers der Eberner Garnison, der seinen Sohn mit Strenge zwang, die Haare schneiden zu lassen. Die Streitigkeiten eskalierten kurz nachdem der Kommandeur nach Hildesheim versetzt worden war. Eines Tages ergriff der Sohn einen schweren Gegenstand und erschlug den Vater.
Die Familien Wagner und Zirbik waren liberal eingestellt. Die Eltern tolerierten die Fransen und Flausen der Söhne. Nur einen Aufkleber auf Thomas Wagners bunt bemaltem VW Bully wollte dessen Mutter nicht hinnehmen. "Wir sind die Leute, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt haben", stand darauf zu lesen. Die Mutter insistierte, dass das nicht stimme, denn sie sei stolz auf ihren Sohn. Der Aufkleber verschwand, alle anderen - gegen Kernkraft, für den Friedensdienst oder gegen Atomwaffen - blieben kleben. Dafür steht Wagner bis heute.
Gegen das Establishment
Wolfgang Zirbik ließ seine Wuschelmähne mit Stolz wachsen, erst recht als Wehrpflichtiger, "um mich gegen das Establishment zu wehren". Noch 1967 hatte ein "Haarerlass" dem Heer "das Tragen einer schulterlangen oder sonst feminin wirkenden Haartracht" untersagt. Erst 1971 ermöglichte es ein "Haarnetzerlass" von Verteidigungsminister Helmut Schmidt Soldaten, lange Haare zu tragen. Zirbik nutzte das, "schon aus Prinzip". Da machte es auch nichts aus, wenn beim Übungseinsatz mit Gas die Augen tränten, weil die Maske nicht dicht abschloss. "Das war einfach Aufbegehren", sagt der heute 66-Jährige: "Am Tag der Entlassung bin ich ins Geschäft und hab die Haare abschneiden lassen."
Er, Dietz und Wagner sind längst etabliert und haben sich doch ihren kritischen Geist bewahrt, einen, "der nicht alles frisst, was uns die Politik und die Presse da so alles erzählen", wie es Wolfgang Zirbik sagt: "Lieber selbst das Hirn einschalten."
Und wie sieht der Figaro Hubert Brückner die 68er in der Rückschau? "Ich war damals 35, also nicht mehr in dem Alter, wo man da mitmacht", stellt er klar. Heute verbindet er mit der Bewegung zunächst Widerstand gegen den Staat und die Gesellschaft und den Terror der Roten Armee Fraktion (RAF). Zöpfe, die unbedingt abgeschnitten werden mussten! Grundsätzlich kann es der Friseur nicht leiden, wenn sich die Menschen in die Haare kriegen.
Heute trägt Brückner volles Haar wie eh und je, die Herren Dietz, Zirbik und Wagner eher hohe Stirn zur Schau. Lange Mähnen sind für sie längst passé. "Halbglatze und Zöpfchen find ich einfach albern", sagt Thomas Wagner. Nur wenn er Altersgenossen mit voller weißer Haarpracht und Pferdeschwanz sieht, wird er manchmal noch ein klein wenig neidisch.