Pflege Mit Mitte 50 wird eine Frau gezwungen, ihrem Lebensweg eine ganz neue Richtung zu geben. Sie betreut Menschen mit Demenz und findet ungeahnte Erfüllung.
Christine Lieb strahlt: "Ich bin so froh, dass alles so gekommen ist", sagt sie und schaut hinüber zur Runde ihrer Gäste. Von Patienten spricht niemand in der Einrichtung von Elanvital, die in Mönchröden in einer Wohnung über einer Arztpraxis untergebracht ist. Hier werden Menschen mit Demenz betreut. Als Gäste eben.
Der Lebensweg von Christine Lieb schien zunächst klar abgesteckt zu sein. Die Arbeit als Betreuerin lag nicht auf diesem Weg. Doch Wege verlaufen nicht immer gerade. Als Christine Lieb in leitender Funktion im Catering für die Mitarbeiter eines großen Coburger Unternehmens arbeitete, glaubte sie, ihr Weg verlaufe geradeaus weiter bis zum Ende ihres Arbeitslebens. Doch irgendwann, jenseits der 50, wurde ihr der Druck zu groß. Der Körper wehrte sich gegen die Belastung. Sie musste sich herausnehmen, erholen, Kraft schöpfen. "In der Reha haben sie mir dann gesagt, dass ich in den alten Beruf nicht zurück kann", sagt sie. Die Belastung wäre zu viel. Mit damals 56 noch einmal etwas ganz Neues anfangen? Eine Herausforderung, eine Wegebiegung, nicht mehr. Christine Lieb fand rasch eine neue Stelle. In einer Küche - aber im überschaubaren Rahmen, kein Vergleich zu ihrem alten Job. Sie freute sich auf die neue Aufgabe.
Als sie zum ersten Tag an der neuen Stelle aufbrach, ahnte sie nicht, dass ihr Lebensweg keine kleine Biegung vorsah. Es war eine Abzweigung. Sie stürzte und verletzte sich so schwer am Knie, dass sie nicht nur durch Operation und Reha schon wieder pausieren musste. Sie würde nicht mehr Vollzeit in der Küche stehen können. So musste sie die neue Arbeit aufgeben, ehe sie richtig angefangen hatte.
Wieder stellte sich die Frage, wohin mit Mitte 50 und jetzt auch noch einer Einschränkung in der Belastbarkeit. Um weiter eine "Teilhabe am Arbeitsleben" zu ermöglichen, durfte sie umschulen. "Ich hatte dann mehrere Praktika für die Orientierung", sagt sie. Als ihr danach gesagt wurde: "Wir könnten Sie uns richtig gut in der Betreuung vorstellen", war das eine Richtung, mit der sie so gar nicht gerechnet hatte. Ebenso wenig die Familie: "Mein Mann hat gesagt, er hätte nie und nimmer gedacht, dass ich mal so was mache."
Ehe sie sich das selbst vorstellen konnte, absolvierte sie wieder mehrere Praktika in der Betreuungsarbeit. "Ja, und dann bin ich hier gelandet", sagt sie und strahlt ihre Chefin Madeleine Heßland an, die neben ihr sitzt. "Und auf den Tag genau, bin ich heute schon ein Jahr hier", fügt Christine Lieb hinzu. Die Arbeit mit "ihren" Gästen fühlt sich jetzt so gut und richtig für sie an, dass sie überzeugt ist: Es hat einfach so sein sollen. Ihr Lebensweg hat sie dort hin geführt, wo sie gebraucht wird. Es ist gerade dieses Gefühl, dieses Bewusstsein gebraucht zu werden, das ihr Erfüllung gibt. "Ich freue mich jeden Tag auf meine Arbeit", sagt sie und "Wenn ich abends gehe, denke ich, ach meine Arbeitszeit ist um, ich darf nicht mehr hier sein."
Dabei ist auch diese Arbeit fordernd. "Wir arbeiten in Schichten", sagt Christine Lieb und wundert sich ein wenig, dass ihr das nichts ausmacht: "Früher hätte mich das gestört. Samstag oder Sonntag zu arbeiten, das wäre für mich gar nicht gegangen." Hat sie früh Dienst, macht sie Frühstück für die Gäste und bereitet das Mittagessen vor. "Da werden die Gäste schon auch ein bisschen mit eingespannt, so wie jeder halt kann", sagt sie.
Vorschriften gibt es für sie da nicht. "Die Betreuerinnen kaufen ein, wie sie denken. Sie sorgen dafür, dass immer was im Kühlschrank ist und kochen so, wie sie die Vorlieben ihrer Gäste kennen", sagt Madelaine Heßland.
Christine Lieb weiß diese Freiheit zu schätzen, die auch Vertrauen ausdrückt. Der Dienst an den Nachmittagen sieht anders aus. "Da kann ich mir überlegen, was ich vielleicht mit den Gästen basteln kann oder welche Spiele wir machen könnten", sagt sie. Auch da heißt es wieder, zu bedenken, wer gerade da ist, was für Vorlieben die jeweiligen Gäste so haben - und was sie noch können.
Dabei kann es sehr unterschiedlich sein, wie sich die Gruppe zusammensetzt. "Manche unserer Gäste kommen nur an einem Tag in der Woche, andere jeden Tag", sagt Madeleine Heßland. Das richte sich danach, wie groß der Bedarf in der jeweiligen Familie ist. Grundsätzlich bietet Elanvital Betreuung an sieben Tagen der Woche von 8 bis 18 Uhr an. "Demenz macht ja auch keine Pause." Die Betreuung allerdings musste Pause machen. Wegen der Corona-Einschränkungen war die Gruppe über Monate geschlossen. Einige Gäste konnten nicht auf die Wiederöffnung warten und wurden in Pflegeheimen untergebracht. "Deswegen haben wir zurzeit sogar wieder Kapazitäten frei."
Und während dieser Zeiten heißt es für Christine Lieb und ihre Kolleginnen: Für Harmonie und ein gutes Gefühl in der Gruppe zu sorgen. Eine Arbeit, die viel Geduld erfordert, denn Demenz lässt schnell wieder aus dem Gedächtnis verschwinden, was gerade noch ganz klar war. "Es macht mir nichts aus, dass ich viele Sachen ganz oft immer wieder sagen muss. Das ist eben die Krankheit", sagt Christine Lieb. "Wenn ich jemanden ablenken kann, der gerade da sitzt und grübelt, dann macht mich das froh", sagt sie. Da sei so eine Zufriedenheit, wenn sie merkt, dass es jemandem gut geht, weil sie für ihn da war. "Manchmal ist da ein Leuchten in den Augen", sagt sie und muss nicht erklären, was ihr dieses Leuchten gibt. Am Ende führt alles auf ihren ersten Satz zurück: "Ich bin so froh, dass alles so gekommen ist."