Die Mutter des Opfers und Ehefrau des Angeklagten musste erneut in den Zeugenstand. Ihr Mann wurde zu einer Freiheitsstrafe von fast vier Jahren verurteilt.
Wegen versuchten Totschlags stand ein 47-jähriger Mann aus dem Landkreis vor Gericht. Er soll versucht haben, seinen zur Tatzeit im Juli letzten Jahres zwölf Jahre alten Stiefsohn mit einem Kissen zu ersticken. Kurz vorher soll der Mann am Steuer seines Autos bei voller Fahrt auf der Stadtautobahn nach hinten gegriffen haben, um das Kind zu maßregeln.
Am zweiten Verhandlungstag erschien die Mutter des Jungen mit einem Zeugenbeistand erneut vor Gericht. Dieses Mal belastete die Frau ihren Mann ganz erheblich. Am ersten Prozesstag hatte sie den Richtern der Ersten Großen Jugendkammer noch eine ganz andere Version der Tat aufgetischt. Oberstaatsanwalt Martin Dippold hatte der Frau am Montag vergangener Woche allerdings kein Wort geglaubt und sie wegen Verdachts auf uneidliche Falschaussage noch im Gerichtssaal verhaften lassen. Die Ermittlungen zu ihrem Fall dauern noch an.
Die neue Aussage brachte den Wendepunkt: Sie habe gelogen und den Erstickungsversuch des 47-Jährigen sehr wohl beobachtet, ihn noch am Arm und schließlich sogar am Kragen seines Hemdes gezogen, damit er von seinem Stiefsohn ablässt, gab sie zu. Der Junge sei von ihrem Mann geohrfeigt und angebrüllt worden. "Mein Sohn war ziemlich rot im Gesicht", erklärte sie, "hat sich aufs Bett geworfen und bitterlich geweint." Kurz darauf rannte der Junge ins Nachbardorf zu seiner Großmutter. Die rief Jugendamt und Polizei.
Es gab schon einen Fall
Bereits vor einigen Jahren musste sich der Mann wegen Misshandlung des Kindes, das damals erst sechs Jahre alt war, vor Gericht verantworten und erhielt eine Bewährungsstrafe. Damals hatte die Schwester des Jungen den Fall öffentlich gemacht, indem sie den Behörden einen Handymitschnitt von den Schreien ihres kleinen Bruders und dem Gebrüll des Stiefvaters zuspielte. Der Mann hat daraus augenscheinlich nichts gelernt: Dieses Mal wirft ihm die Staatsanwaltschaft zusätzlich versuchten Totschlag und gefährliche Körperverletzung vor. In seinem Plädoyer forderte Dippold eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren.
Der Angeklagte hat mit seiner Ehefrau, der Mutter des Jungen, zudem drei leibliche Kinder. Sein 13-Jähriger Stiefsohn leidet unter ADHS und ist auf Medikamente angewiesen.
Als ältestes Kind in der Familie hatte er keinen leichten Stand: Er sei der "Sündenbock und Leidtragende in der Familie" gewesen, sagte ein Polizeibeamter aus, der mit der Großmutter gesprochen hatte und dem die Familie und der Junge nicht unbekannt waren.
Kind musste im Wald schuften
Die Großmutter brachte Beispiele für die Zustände: Fast täglich habe der Junge mit dem Stiefvater zum Holzmachen in den Wald gemusst. "Jeden Tag mit in den Wald war zu viel für mich", erklärte der Bub, der mittels Video befragt worden war. "Wenn er sich weigerte, durfte er nicht duschen, weil das Warmwasser übers Holz lief", erklärte die Oma.
Gar nicht liebevoll
Der Psychologe des Jungen attestierte ihm eine emotionale Angststörung und Depression sowie eine hohe Intelligenz. Sowohl die Mutter als auch der Vater seien mit der familiären Situation überfordert gewesen, erklärte er. "Liebevoll, aber konsequent soll die Erziehung sein. Das war hier selten liebevoll."
Sowohl die Mutter als auch der Stiefvater bezeichneten den Jungen als schwierig und schwer zu erziehen. Der Angeklagte gab die Schläge zwar zu und auch, dass er mit der Situation in der Familie überfordert war, nicht aber den Erstickungsversuch.
Das Gericht verurteilte den Mann zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten sowie einem Entzug der Fahrerlaubnis für neun Monate. Den versuchten Totschlag verneinten die Richter allerdings.