Einer der Gründe ist sicherlich dieser Tarnumhang aus Zuckermolekülen, der den Angriff durch neutralisierende Antikörper verhindert. Dann die enorme Variabilität des Virus. Alle bisher zur Verfügung stehenden Impfstoffe wie gegen Röteln, Masern, Mumps oder Influenza bauen auf dem Prinzip auf, dass unser Immunsystem Antikörper bildet, die die Viren sofort nach Eintritt in den Körper neutralisieren und unschädlich machen. Bei HIV funktioniert genau das leider nicht. Die gebildeten Antikörper sind in der Regel komplett wirkungslos.
Das heißt: Die klassische Impfstoffentwicklung klappt bei HIV gar nicht?
Eine Impfung simuliert eine echte Infektion, ist aber für den, der sich impfen lässt, vollkommen harmlos, weil entweder ein abgeschwächtes Virus oder nur einzelne Bruchstücke verabreicht werden. Das reicht aus, damit das Immunsystem eine Immunantwort ausbilden kann, die in der Lage ist, eines Tages den echten Erreger wirkungsvoll zu neutralisieren - falls man mit diesem in Kontakt kommt. Ein Impfstoff hinterlässt also eine schützende Immunität, genauso, wie eine durchgemachte Infektion mit einem echten Virus ebenfalls vor einer weiteren Infektion mit diesem Erreger schützt. Eine Impfung simuliert also den Zustand nach einer bereits durchgemachten Infektion. Und jetzt kommt das Problem: Unser Körper ist nicht in der Lage, gegen HIV eine Immunantwort zu bilden, die vor einer weiteren Infektion mit HIV schützt. Die Zahl derer, die das Virus selbstständig kontrollieren können, ist ohnehin schon sehr klein. Und inzwischen wissen wir, dass auch bei diesen wenigen Patienten eine Zweitinfektion mit einem neuen HIV dazu führen kann, dass diese Patienten die Kontrolle über die Infektion verlieren. Die Hürde für die Entwicklung eines Impfstoffes liegt bei HIV also leider ziemlich hoch.
Aber trotzdem sprechen Sie von Fortschritten in kurzer Zeit.
Der wichtigste Fortschritt ist natürlich die Entwicklung von Medikamenten, die dazu geführt haben, dass Patienten mit einer HIV-Infektion nicht mehr an Aids sterben, sondern inzwischen sogar eine normale Lebenserwartung haben. Wir gehen heute davon aus, dass jemand, der sich in einem Alter von sagen wir 20 Jahren mit HIV infiziert und antivirale Medikamente einnimmt, mit der gleichen Wahrscheinlichkeit 90 Jahre alt werden kann, wie jemand, der keine HIV-Infektion hat. Ein wirklich großer Meilenstein ist, dass diese Medikamente jetzt weltweit zur Verfügung stehen und damit insbesondere in den armen Ländern Subsahara-Afrikas, in denen die HIV-Infektion am stärksten verbreitet ist. Das war nur möglich, weil viele Pharmafirmen sich bereit erklärt haben, ihre Medikamente für den afrikanischen Markt zu sehr niedrigen Preisen anzubieten. Diese Medikamente werden dann durch Hilfsfonds bezahlt, so dass sie für Patienten in Afrika vollkommen kostenlos sind. Ziel ist es, dass in wenigen Jahren weltweit 90 Prozent aller HIV-Patienten therapiert werden können - momentan sind wir bei einer Therapieabdeckung von etwas über 50 Prozent.
Braucht es - angesichts der guten Therapien - dann überhaupt einen Impfstoff?
Diese Frage stellt sich in der Tat. Durch die Therapie wird nämlich nicht nur bewirkt, dass der einzelne HIV-Patient gesund bleibt, sondern es wird außerdem auch verhindert, dass das Virus auf andere Personen übertragen werden kann. Das gilt natürlich nur, solange die Medikamente regelmäßig eingenommen werden. Wenn es nun gelingt, weltweit einen Großteil der HIV-Patienten zu therapieren, wird dieses die Zahl der Neuinfektionen spürbar senken. HIV wäre dann erstmals wieder auf dem Rückzug. Allerdings wissen wir auch, dass etwa jede zweite HIV-Infektion bereits in den ersten sechs Wochen weitergegeben wird. Zu dem Zeitpunkt wissen natürlich die wenigsten Patienten, dass sie überhaupt infiziert sind. Das bedeutet, dass in dieser besonders riskanten Frühphase der Infektion viele Patienten auch in Zukunft das Virus weitergeben können, weil sie noch keine Therapie erhalten. Nur mit Therapie allein wird sich die Epidemie zwar eindämmen, aber nicht ganz beseitigen lassen. Das schafft nur eine Impfung.
In den vergangenen Jahren war ja immer mal von "Durchbruch" die Rede. Haben Sie schon mal an den Durchbruch "geglaubt"?
Durchbrüche gibt es viele. Allerdings sind wissenschaftliche Durchbrüche in der Regel sehr weit entfernt von einer Anwendbarkeit, und die meisten schaffen es ja auch gar nicht bis dorthin. Ich bin bei Erfolgsmeldungen aus der Forschung deshalb natürlich generell sehr skeptisch. Das liegt eigentlich auch in dem Naturell eines Wissenschaftlers. Wir haben gelernt, Dinge kritisch zu hinterfragen, nur so ist wissenschaftlicher Fortschritt überhaupt erst möglich. Allerdings muss man natürlich auch die Chancen erkennen, die sich bieten und diese dann konsequent ausloten.
Apropos Chancen. Die Geburt eines Babys, das durch Genmanipulation lebenslang vor einer Infektion mit HIV geschützt ist: Wie sehr hat sie die Nachricht aus China entsetzt - oder gefreut?
Ich kenne zu diesem Fall noch nicht die Einzelheiten. Nach meinem Kenntnisstand soll eine Forschungsgruppe in China bei menschlichen Embryonen mithilfe der Geneditierung das Erbgut in einem Rezeptormolekül für HIV so verändert haben, dass die daraus geborenen Kinder gegenüber einer HIV-Infektion resistent sein sollen. Mich hat diese Nachricht genauso wie wahrscheinlich die allermeisten anderen Wissenschaftler entsetzt. Wir haben international noch keinen Konsens darüber gefunden, wann und ob überhaupt ein Eingriff in die Keimbahn eines Menschen erlaubt, gerechtfertigt, sicher oder angemessen ist. Wir sind noch weit entfernt davon abschätzen zu können, welchen Risiken und möglichen Schäden und Spätfolgen diese Kinder ausgesetzt sein werden.
Verurteilen Sie den Einsatz von Gentechnik allgemein?
Nein, Gentechnik im Allgemeinen halte ich für sehr sinnvoll. Und sie ist aus unserem Leben auch nicht mehr wegzudenken. Unter Gentechnik versteht man ja lediglich die gezielte genetische Manipulation an einem Lebewesen - es ist, wenn man so will, eine Weiterentwicklung der klassischen Züchtung. In den meisten Fällen, in denen Gentechnik zum Einsatz kommt, handelt es sich um Bakterien, die wir im Labor dazu bringen, bestimmte Proteine herzustellen, die wir dann genauer untersuchen wollen. Jede Studentin, jeder Student der Biologie, Biochemie oder Biomedizin wird im Laufe des Studiums dutzendfach mit gentechnischen Methoden arbeiten. In der Virologie wird jedes Virus, an dem man forscht, gentechnisch verändert, um die Funktion der einzelnen Gene zu verstehen. Wir haben in Deutschland ein Gentechnik-Gesetz, das den Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen regelt und das sich bewährt hat. Die Anwendung von Gentechnik in der Agrarwirtschaft kann sehr sinnvoll sein, um zum Beispiel Schädlingsbekämpfungsmittel einzusparen. Auch beim Menschen gibt es viele sinnvolle Indikationen, um Gentherapie zu versuchen. Wir sind hier zwar leider noch in den Kinderschuhen, aber es ist absehbar, dass Gentherapie in Zukunft auf breiterer Basis kommen und auch erfolgreich sein wird. Momentan handelt es sich allerdings noch um experimentelle Therapien.
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Das Gespräch führteAlice Natter