Immer häufiger sehen sich Polizisten, aber auch Feuerwehrleute, Sanitäter und Ärzte mit Aggression konfrontiert.
Für Jonas Güldner waren es die schrecklichsten Momente seines Lebens: Der 28 Jahre alte Rettungssanitäter aus dem Landkreis
Bamberg wurde bei einem Routine-Einsatz von Jugendlichen umringt, beschimpft und bedroht. "Ich hatte Angst um mein Leben", sagt er.
Es passierte kurz vor Weihnachten 2015. Der Rettungsdienst war zu einem 18-Jährigen gerufen worden, der so viel Alkohol intus hatte, dass er nicht mehr ansprechbar war. Solche Einsätze sind der Alltag für die Mitarbeiter der Rettungsdienste, und niemand käme auf die Idee, da ein besonderes Risiko zu vermuten.
Doch als Güldner und sein Kollege die Alkoholleiche versorgt hatten, eskalierte die Situation: Die Helfer wurden von mehreren wohl ebenfalls angetrunkenen Jugendlichen umringt, die ihren Kumpel aus dem Rettungsfahrzeug holen wollten. Die Stimmung war aggressiv. Die Sanitäter standen buchstäblich mit dem Rücken zur Wand und setzten einen Notruf an die Leitstelle ab.
"Ich steche euch ab!"
Für Güldner und seinen Kollegen vergingen bange Minuten, bis die Streifenwagen am Ort des Geschehens eintrafen. Einer der Angreifer griff in seine Jackentasche und schrie: "Ich steche euch ab!" Als die Polizei endlich mit zwei Fahrzeugen erschien, flüchteten die Jugendlichen.
Dieses Ereignis rückte das Gewalt-Phänomen nachhaltig ins öffentliche Bewusstsein. Ist das, was Güldner erlebt hat, noch im normalen Rahmen, gehört es zum "Berufsrisiko", mit dem auch Polizeibeamte und Feuerwehrleute leben müssen? Oder ist hier die Grenze des noch Tolerierbaren bei weitem überschritten?
Für Bayerns Innenminister Joachim Herrmann ist die Antwort eindeutig. "Wir müssen mit aller Entschiedenheit die Sicherheit derer schützen, die uns schützen und helfen", sagt er. Der Minister beklagt, dass die Zahl der gemeldeten Übergriffe gegen Polizeibeamte und Mitarbeiter der Rettungsdienste seit Jahren "auf hohem Niveau stagniert". 2015 wurden knapp 200 Rettungskräfte im Freistaat Opfer körperlicher Gewalt, bei den Polizisten sind die Zahlen noch dramatischer: 15 000 Polizeibeamte wurden angegriffen, rechnerisch jeder Zweite in Bayern.
Jung, männlich, blau
"Jeder dieser Fälle ist einer zu viel", sagt Herrmann, der davon ausgeht, dass es insbesondere bei der Gewalt gegen Rettungskräfte eine hohe Dunkelziffer gibt, weil viele dieser Vorfälle gar nicht aktenkundig werden.
Zwei Fakten fallen in der Statistik des Innenministers auf: Gewalt gegen die Polizei ist ein Phänomen, das vor allem in den Städten beobachtet wird; dagegen finden die Übergriffe gegen den Rettungsdienst überwiegend auf dem Land statt. Und: Die Täter sind meist junge Männer zwischen 18 und 40, und fast immer "sind sie besoffen", wie Herrmann drastisch formuliert.
Die Aussagen des Minister decken sich mit den Ergebnissen der wenigen wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit dem Gewalt-Phänomen beschäftigen. Dabei hat unter anderem Janina Lara Dressler in ihrer Doktorarbeit an der Universiät in Bonn des Gewalt-Begriff weiter gefasst. Über die Ergebnisse ihrer Umfrage unter rund 1600 Rettungsdienstlern in Berlin, Hamburg, Köln und München war die Wissenschaftlerin selbst überrascht: Mehr als 93 Prozent der Befragten gaben an, dass sie im Dienst schon einmal beschimpft, bedrängt, bedroht, bespuckt oder gar angegriffen worden seien.
Ursachenforschung
Die Ursachenforschung steht erst am Anfang. Studien wie "Die enthemmte Mitte" (Universität Leipzig) kommen zu dem Schluss, dass extreme politische Einstellungen in allen Schichten der Bevölkerung zunehmen - und dass die Skepsis gegenüber staatlichen Autoritäten wächst, bis hin zu Ablehnung oder Hass. Das legt den Schluss nahe, dass mancher Übergriff sich gar nicht gegen den Rot-Kreuzler oder gegen den Polizisten richtet, sondern gegen seine Uniform als Symbol des ungeliebten Staates.
Härtere Strafen?
Der Ruf nach härteren Strafen wird schnell laut, wenn von Gewalt die Rede ist. Bayerns Innenminister fordert, dass der Rechtsstaat "Zähne zeigen muss", wenn seine Repräsentanten angegriffen werden.
Tatsächlich sind die rechtlichen Möglichkeiten bereits gegeben, Übergriffe gegen Mitarbeiter der Rettungsdienste zu ahnden. Der Paragraf 113 des Strafgesetzbuches, der den Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zum Inhalt hat, wurde 2011 verschärft. Neben höheren Strafen wurde der Passus im Strafgesetzbuch um Paragraf 114 ergänzt: Den Vollstreckungsbeamten werden Einsatzkräfte der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes und des Rettungsdienstes gleichgestellt.
Angriffe gegen solche Personen werden mit Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren geahndet, in schweren Fällen drohen bis zu fünf Jahren. Nicht nur beim Roten Kreuz bezweifelt man allerdings, ob potenzielle Täter das Strafgesetzbuch gelesen haben. Gerade die Übergriffe gegen Rettungsdienstler werden überwiegend von Betrunkenen begangen, die nicht zuletzt wegen des Alkohols jegliche Selbstkontrolle verlieren. Deshalb setzt der BRK-Landesgeschäftsführer Leonhard Stärk vor allem auf die Deeskalation in Krisensituationen durch die Schulung der Mitarbeiter im Rettungsdienst.
Gewalt macht Schule
Soziologen streiten über Ursache und Wirkung: Spiegeln die sozialen Netzwerke mit ihrer oft aggressiven Sprache die Verrohung in der Gesellschaft lediglich wieder? Oder sind die Beschimpfungen und Beleidigungen auf Facebook und Co. der erste Schritt zu handgreiflicher Gewalt?
Für den Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrerverband (BLLV) ist der Zusammenhang so eindeutig, dass er ein "Manifest gegen die Verrohung" formuliert hat. Die BLLV-Vorsitzende Simone Fleischmann will damit mehr als nur ein Zeichen setzen. "Wir sehen eine Verrohung der Sprache, und das auch bei den Kindern, die ja ein Spiegel der Gesellschaft sind", sagt die Vorsitzende. Das "Manifest" ist als Reaktion auf die vielen sprachlichen Entgleisungen bei der Diskussion um die Flüchtlinge entstanden. Da gab und gibt es nicht nur Hasskommentare von anonymen Usern im Netz. "Auch so mancher politisch Verantwortliche ist da nicht eben mit positivem Beispiel vorangegangen", sagt Fleischmann.
In so einem Umfeld verwundere es nicht, dass Schüler untereinander und auch gegenüber Lehrern sich immer öfter nicht nur im Ton vergreifen. "Dem müssen wir Lehrer entgegenwirken, und wir können das auch. Denn in der Schule sitzt die Gesellschaft von morgen. Wir Erwachsene sind ihre Vorbilder. Unser Verhalten färbt auf Kinder und Jugendliche ab", sagt die BLLV-Chefin.
Ihr Manifest sieht sie als Appell an die Vorbildfunktion, die nicht nur Lehrer gegenüber Kindern und Jugendlichen haben, sondern alle Erwachsene.
Beispiele aus Franken
Sind es Einzelfälle oder rücken Rettungskräfte bei ihren wichtigen Einsätzen in den Mittelpunkt von Hass, Beschimpfungen und Aggressionen? Traurige Tatsache ist wohl, dass solche Zwischenfälle auch in Nordbayern zunehmen. Hier ein Überblick aus den letzten Jahren:
1. Bayreuth: Am 11. August 2015 kam es im Stadtteil Altstadt im Rahmen eines Notarzteinsatzes zu einem Angriff eines Patienten auf die Rettungskräfte. Eine Notärztin und drei Sanitäter wurden mit einem Messer schwer verletzt. Mit Hilfe von SEK-Beamten konnte der Täter festgenommen werden. Gegen 20.30 Uhr wurden damls Helfer zu einem Einsatz in einem Anwesen im Lessingweg gerufen. Während die Rettungskräfte den 26-Jährigen Patienten versorgen wollten, ging dieser mit einem Messer auf sie los. Hierbei verletzte der Täter die Notärztin sowie drei Sanitäter schwer, aber nicht lebensbedrohlich. Alle Verletzten mussten in ein Krankenhaus gebracht werden. Bei Eintreffen der alarmierten Einsatzkräfte versteckte sich der Angreifer im Anwesen. Zwischenzeitlich hinzugezogene Spezialeinsatzkräfte durchsuchten das Einfamilienhaus und die nähere Umgebung, während Feuerwehr und technisches Hilfswerk die Zufahrten zum Tatort abriegelten und das Anwesen ausleuchteten. Schließlich spürten die Polizeikräfte den Tatverdächtigen in einem Verschlag auf und nahmen ihn fest.
2. Landkreis Kulmbach: Am ersten Weihnachtsfeiertag 2016 wurde die Feuerwehr zu einem Wohnungsbrand gerufen. Die Bewohnerin der Wohnung, eine 94-Jährige, war bereits in Sicherheit, der Terrassenbereich ist stark verqualmt und die Hauswand rußgeschwärzt. Während des Einsatzes sperrte die Feuerwehr die Straße vor der Wohnung. Das konnten einige Verkehrsteilnehmer gar nicht nachvollziehen. Mehrfach wurden die Rettungskräfte beschimpft. Ein Autofahrer fuhr sogar auf der Gegenfahrbahn in die Straße ein. Innerhalb weniger Tage kam es im November 2016 in Kulmbach zu drei Bränden an BRK-Stützpunkten. Ein Rettungswagen wurde angezündet, an der ehemaligen Ruppert-Villa wurde Feuer gelegt und es ereignete sich ein Brand eines Feldkochherds auf einem BRK-Gelände im naheliegenden Kupferberg. Doch damit nicht genug: Ende des Monats wurden die Radbolzen eines Rettungswagens gelockert. Die Häufung der Vorfälle ist rätselhaft. "Wir sind schockiert, dass sich so etwas gegen eine Organisation richtet, die anderen hilft", hatte BRK-Kreisgeschäftsführer Jürgen Dippold im November gesagt. Bis heute seien keine neuen Vorfälle aufgetreten. "Die Ermittlungen laufen", so Dippold.
3. Landkreis Erlangen: Im September 2016 endete die Fluss-Kreuzfahrt auf dem Main-Donau-Kanal mit einem Todesdrama. Die 135 Meter lange "Viking Freya" war in Erlangen gegen eine Eisenbahnbrücke gefahren. Die gesamte Technik im Leitstand und die Hydraulik zum Einfahren wurden dabei zerstört. Zwei Männer starben. An der Unfallstelle hatten die Rettungskräfte erhebliche Probleme mit Gaffern, die während der Bergung Fotos und Videos machen wollten. Manche Gaffer positionierten sich sogar auf den Rettungssteg, über den die Helfer Passagiere und Besatzung vom Schiff gebracht hatten.
4. Landkreis Forchheim: Bei der Ewigen Anbetung in Obertrubach Anfang Januar dieses Jahres wollte ein 21-jähriger Autofahrer aus der Gemeinde die Absperrung von Polizei und Feuerwehr am frühen Abend mit seinem Wagen durchbrechen. Warnende Handzeichen der Helfer ignorierte er, rief frech "hier ist 100 erlaubt" aus dem Fahrzeug. Als er gestoppt wurde, beschimpfte er Feuerwehrleute weiter, bretterte danach los und gefährdete so eine Frau sowie deren Kind. Die Folge: Jetzt ermittelt die Polizei gegen den Verkehrsrowdy. Warum der junge Mann so reagierte, verwundert selbst die Einstzkräfte. Andreas Kirsch, Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr Wolfsberg, sagte nach dem Vorfall: "Diskussionen gibt es manchmal, aber so eine Überreaktion habe ich beim Lichterfest noch nicht erlebt." Florian Burkhardt, Pressesprecher des Kreisfeuerwehrverbandes, vermutet, dass solche Fälle nicht zunehmen würden: "Es gibt nur eine größere mediale Aufmerksamkeit." Burkhardt rät den Rettungskräften: "Wir dürfen uns nicht provozieren lassen, sonst begeben wir uns auf die gleiche Ebene."
5. Bamberg: Auf die Frage, ob es Erfahrungen mit Pöbeleien gibt, antwortet Thomas Stemper, Wachleiter beim BRK Bamberg: "Natürlich." Da klopfen Autofahrer an die Scheibe des Rettungswagens und fragen: "Wann seid ihr endlich fertig?". "Oder sie gehen ins Haus und suchen unsere Mannschaft - um zu erfahren, wann wir weg fahren." Immerhin: Bei allen Anfeindungen werden wir auch gelobt. "Das freut einen schon, wenn sich jemand die Mühe macht, und extra noch mal anruft", so Stemper weiter.