Mit einer Bewährungsstrafe gegen den 45-jährigen Angeklagten endete eine Verhandlung am Landgericht. Es ging um ein Schicksal, das niemanden kalt ließ.
Was am Landgericht Bamberg in zwei Prozesstagen verhandelt wurde, war mehr als die Suche nach Wahrheit und ein gerechtes Urteil. Es war eine akribische Spurensuche in dem Leben eines Mannes, dessen Schicksal weder Richter noch Anwälte, Zeugen noch Zuhörer kalt ließ. Eine Gerichtsverhandlung quasi als Therapiesitzung mit allen nur denkbaren Versuchen, dem Angeklagten Perspektiven für eine straffreie Zukunft aufzuzeigen.
Am Ende stand zwar das klare Urteil, nämlich ein Jahr und vier Monate Haft wegen Beleidigung und gefährlicher Körperverletzung sowie Übernahme der Verfahrenskosten. Doch die Haftstrafe wurde auf Bewährung ausgesetzt: mit so strengen Auflagen, die für den Verurteilten die Chance auf einen strukturierten Alltag ohne Auffälligkeiten eröffnet.
Vorsitzender Richter Thomas Reznik und seine beiden Richterkollegen sowie zwei Schöffen lieferten eine Sternstunde der Justiz. Sie mussten nach der bereits Anfang 2018 gelaufenen Hauptverhandlung am Amtsgericht entscheiden, ob der 45-jährige Martin Bauer (Name geändert) nach Paragraf 63 Strafgesetzbuch (StGB) wegen Allgemeingefährlichkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden muss. Eine solche Entscheidung kann nur das Landgericht treffen.
Die Tat, um die es vordergründig ging, liegt schon zwei Jahre zurück: eine heftige Schlägerei mit einem Bekannten, der dabei unter anderem einen Nasenbeinbruch erlitt. Martin Bauer verlor dabei einen Zahn. Beide Männer haben in der Vergangenheit Kickboxen betrieben. Zeugin der Prügelei war die
damals sechsjährige Tochter des Bekannten. Äußerst behutsam und mit kindgerechten Worten befragte Richter Reznik das Mädchen. Ihre Antworten gingen eindeutig zu Lasten von Martin Bauer. Er hatte das Geschehen aus seiner Sicht geschildert und erklärt, dass er sich "nur gewehrt hat", als er ihm "zwei, drei Schläge verpasst hat".
Ein leben, das nachdenklich macht
Durch gezielte Fragen an "Täter und Opfer" und eine weitere Zeugin versuchte Richter Reznik, den Tathergang und den Auslöser der Prügelei zu rekonstruieren. Auch der Polizeibeamte, der zum Tatort gerufen worden war und die ersten Vernehmungen geführt hatte, kam in den Zeugenstand. Damit war
eigentlich die Tat inklusive Beleidigung "Arschloch" oder "Trottel" geklärt. Doch diese steht im Kontext eines Bamberger Lebens, das nachdenklich macht.
Martin Bauer wuchs in einer problematischen Familie auf - mit vier Geschwistern von verschiedenen Vätern. Seine Mutter verprügelte den kleinen Martin mit Gürteln oder Kochlöffeln, bis er grün und blau war. Eines Tages schlug sie ihm mit einem Hammer auf den Kopf. Schädelbruch und schwere Hirnschädigung waren die Folgen. Mit zwölf Jahren kam er ins Kinderheim St. Elisabeth, blieb dort bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr. "Ich war gerne dort", sagte Martin Bauer selbst dem Richter.
Sonderschule, abgebrochene Lehre zum Metzger, Gelegenheitsjobs, arbeitslos - und seit 1994 achtzehn Einträge ins Bundeszentralregister samt diverse Haftstrafen gehören zu Bauers Biografie. Auch 2018 sind zwei neue Straftaten dazu gekommen. Richter Reznik las die Liste vor: Körperverletzungen, unerlaubter Besitz von Betäubungsmitteln und Handel damit, Diebstähle, häufig exhibitionistische Handlungen. "In allen Urteilen wurde ihm verminderte Schuldfähigkeit bescheinigt", so der Richter.
Auch für das aktuelle Urteil wurde zuvor ein medizinisches Gutachten erstellt. Neurologe und Psychiater Dr. Christoph Matern (Bayreuth) diagnostizierte eine "irreversible Hirnschädigung durch Gewalt gegen den Kopf in der Kinderzeit" sowie eine "organische Persönlichkeitsstörung, kognitive Störung, Beeinträchtigung des sozialen Beurteilungsvermögens und der Steuerungsfähigkeit, krankhaft seelische Störung, unterdurchschnittliche Intelligenz an der Grenze zur Debilität".
Verminderte Schuldfähigkeit
Der Gutachter führte "begrenzte therapeutische Möglichkeiten" an und die Notwendigkeit einer "umfassenden überdauernden Betreuung", zumal es immer wieder "problematisches Verhalten geben kann". Allerdings sehe er, so Dr. Matern, keine Voraussetzung für die Anwendung des Paragrafen 63 StGB, da von Martin Bauer "kein hochgradiges gefährliches Risiko und keine gesteigerte Aggressivität ausgeht". Der Paragraf 21 StGB - "verminderte Schuldfähigkeit" sei jedoch "positiv gegeben".
Staatsanwältin Katja Erlwein schloss sich dieser Einschätzung an, betonte aber, dass der in der Anklageschrift dargelegte Sachverhalt weitgehend bestätigt sei. Erschwerend sei zudem, dass der Angeklagte seine Tat unter Bewährung begangen habe. Die Staatsanwältin plädierte für zwei Monate Haft wegen Beleidigung sowie 14 Monate Haft wegen gefährlicher Körperverletzung.
Martin Bauers Pflichtverteidiger Michael Lange sah in seinem Plädoyer nur eine "unklare Beweislage": "Wir wissen bis heute nicht, wer was wann gesagt und getan hat". Lange sprach von einer "Problematik, die in Martin Bauers Person liegt". Er habe das Talent, "immer in solche Situationen zu kommen, hervorgerufen durch sein Erscheinungsbild". Der Anwalt wollte "keinerlei Spielraum für den Paragrafen 63". Entscheidend sei, dass der Beschuldigte "in eine strukturierte Welt kommt": "Haft ist keine Lösung!"
Nach dem richterlichen Urteil bleibt Martin Bauer eine erneute Haft erspart. Die auf vier Jahre ausgesetzte Bewährung steht unter Auflagen wie 60 Arbeitsstunden innerhalb von drei Monaten, jeglicher Ausschluss von Alkohol durch regelmäßige Urinkontrollen oder unverzügliche Meldung eines Wohnsitzwechsels, ständiger Kontakt mit der Bewährungshelferin und der amtsrichterlich angeordneten Betreuerin.
Ein Lichtblick
Vor allem scheint es in dem ganzen menschlichen Drama einen Lichtblick zu geben: Im Rahmen eines Projektes von Integra Mensch geht Martin Bauer seit einigen Monaten einer Beschäftigung nach, die ihn körperlich fordert, und die er zuverlässig erfüllt. So berichtete seine Bewährungshelferin vor dem Landgericht. Ein fester Arbeitsvertrag stehe jedenfalls in baldiger Aussicht.
"Die Wurzel dieses Verfahrens liegt viele Jahre zurück in der Kindheit, in der er massiv von seiner Mutter misshandelt wurde", hatte Richter Reznik in seiner Urteilsbegründung angeführt. In der Gesamtschau lasse sich erwarten, dass mithilfe eines Netzwerkes von Betreuern Martin Bauer keine weiteren Straftaten mehr begehe. Mangels Gefährlichkeitsprognose werde von einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgesehen.