Drei Fotografen gestalten in der Villa Dessauer Zeit. Zwei Makrosophen visualisieren das Kleine, Jürgen Schraudner widmet sich dem Großen.
Ein Samstagmittag, sagen wir in der Fußgängerzone oder vor dem Alten Rathaus. Unendliches Gewusel, Touristen vor allem, Einheimische. Gesprächsfetzen, verwehte Popmusik-Splitter, tätowierte Leiber. "Man geht unter die Leute, um sich an seinem Hass gegen sie zu weiden", schrieb der Dadaist Walter Serner einmal. So weit muss man nicht gehen, um genervt zu sein von in den letzten Jahren überbordenden Massen in der Domstadt.
Jürgen Schraudner setzt in seinen fotografischen Arbeiten einen Kontrapunkt. Gegen Human-Gewimmel die majestätische Ruhe des Anorganischen. Wann hat man zuletzt den Schönleinsplatz oder Klein-Venedig menschenleer gesehen, den Berliner Ring ohne Autos? Man assoziiert Herbert Rosendorfers Roman "Großes Solo für Anton", dessen Held eines Morgens erwacht und sich ganz allein in der Heimatstadt ohne Mitmenschen wiederfindet. Für dieses Gefühl muss man ganz früh aufstehen oder eine Corona-Krise abwarten. Nun entstanden Schraudners Fotos - er ist in der Bamberger Foto-Szene seit Jahrzehnten eine tragende Säule - vor "Corona" gerade um 12 Uhr mittags, High Noon, eine sportliche Herausforderung für ihn, wie er sagt. Wie das?
Maximale Belichtungszeiten
Dazu braucht man fotografische Spezialkenntnisse. Er setzt seine (Digital-)Kamera auf ein Stativ und belichtet lange, sehr lange (von sonstigen Tricks und Einstellungen ganz zu schweigen). Das reicht von vier Minuten, um eine (fast) leere Sandstraße zu porträtieren bis zur Rekordzeit von zwölf mit dem Schönlein splatz als Motiv. Heraus kommen Architekturfotos ohne Menschen. Das heißt: Wenn die sich nicht bewegen, erscheinen sie, manchmal auch als Schatten, unwirklich, halb aufgelöst.
Den Domplatz hat er in acht Einzelaufnahmen mit jeweils vier Minuten Belichtung aufgeteilt, ausgestellt in einem kleineren Raum der Dessauervilla, der Rewe-Markt Rudel ist aller Kunden entblößt bis auf die Besitzerin, die wie zur Statue erstarrt verharrt. Oder das Stillleben im Bambados: Ein schlafender Gast allerdings hat sich ins Tableau gestohlen. Wer Bamberger Ansichten menschenleer erleben will, der besuche die städtische Galerie.
"Stille Fotos" verspricht Museumsdirektorin Regina Hanemann in der Ausstellung "Zeit gestalten". Ob die Fotos der Gothaer Künstler Bernd Seydel und Thomas Wolf Stille verströmen, muss der Betrachter selbst entscheiden. Auf jeden Fall faszinieren sie durch nie gesehene Detailfülle, denn die beiden "Makrosophen" machen das Kleine groß. Ihren "Katalog des Lebens" bebildern sie mit der "Weisheit der letzten Dinge". Etwas weniger esoterisch formuliert: In einem aufwendigen Verfahren fotografieren sie unter sorgfältiger Beachtung der Lichtsetzung kleine Objekte - eine Wurzel, eine Blüte, das Innere einer Taschenuhr, ein Mineral - 50- bis 60-mal.
Bis zu 35 Gigabyte groß
Ein Computer errechnet daraus eine Datei mit bis zu 35 Gigabyte. Auf einem Spezialdrucker vergrößert, wird das Bild auf Stoffe wie Chromaluxe, Alu-Dibond gezogen oder auch einmal einem Duschvorhang oktroyiert.
Durch die enorme Vergrößerung und Farbenpracht entstehen Schattierungen, Blickwinkel, Assoziationen sondergleichen. Etwa das Foto des Oxids "Goethit": Ein Schlangenkopf scheint über einem gekrümmten Körper zu thronen, Schuppen scheinen das tote Material zu einem zwittrigen Wesen zwischen Leben und Tod zu transformieren. So wie die beiden Gothaer die Zwischenstufen besonders interessieren.