Statt Schafe zu treiben, gibt ein "Australian Sheperd"-Hütehund namens Takoda schwer kranken Menschen Aufmerksamkeit. Und Liebe.
T akodas erster Kuss ist wie ein Kampf. Zuerst belauern, dann zuschlagen. Er beißt zu, ohne Liebe, Sehnsucht oder Gefühl - Appetit und Lust sind es, die ihn treiben. Schnell hat er, was er will und flieht ans andere Ende des Raums. "Na, du bist wohl noch etwas schüchtern?", fragt Birgit Rauh, "aber für dein erstes Mal war das gar nicht so schlecht. Das müssen wir zu zweit mal üben." Takoda sieht seine Freundin an, sein Schwanz wedelt aufgeregt hin und her.
Takoda und Birgit Rauh haben seit mehr als sieben Jahren kaum einen Tag und nur wenige Stunden ohne einander verbracht. Sie gehen zusammen spazieren, schlafen im selben Zimmer und arbeiten gemeinsam im dritten und vierten Stockwerk des Klinikums
Coburg. Dennoch teilte Takoda seinen ersten Kuss nicht mit seiner Partnerin, sondern mit dem 63-jährigen Mann im Rollstuhl, der Birgit Rauh nun selbstzufrieden angrinst.
Takoda ist ein Australian Sheperd, ein Hütehund der Rasse nach, ursprünglich gezüchtet um Schafe zu treiben. Birgit Rauh nahm ihn auf, als er gerade zwei Wochen alt war und bildete ihn stattdessen über Jahre hinweg zu einem Therapiehund aus. Dafür nahm sie ihn mit in die Vorlesungen und Seminare, als sie sich an der Hochschule Coburg zur Sozialpädagogin ausbilden ließ, sie schlief mit ihm im selben Bett und plante ihre Urlaube so, dass er sie immer begleiten konnte.
Auch seinen Namen bekam er von ihr. Takoda entstammt dem Wortschatz der Sioux-Indianer und bedeutet "Jedermanns Freund".
Der 63-Jährige ist der erste Patient der beiden an diesem Tag. Er ist selbst Hundeführer, hat seine Schäferhunde zuhause aber schon seit Tagen nicht gesehen; wegen eines Tumors am Becken muss er vorerst in der Klinik bleiben. Pfleger beschrieben den Patienten als sehr verschlossen und eher mürrisch. Als er in den Raum im dritten Stock gerollt wird, scheint sich der Eindruck zu bestätigen: Der Mann hält die Arme verschränkt, knurrt Birgit Rauh eher an, als dass er mit ihr spricht. Auch wenn er leise redet, schreit die Disziplin aus seiner Stimme, so wie es nur bei einem Menschen sein kann, der es gewohnt ist, das Kommando zu haben.
Takoda aber ist unruhig, ignoriert Anweisungen, jault und springt im Raum umher, Leckerlis versucht er sich zu schnappen, noch bevor er etwas getan hat. Ein Verhalten, wie Birgit Rauh es von ihm kaum kennt. Ausgerechnet heute.
Die Hundeführerin lächelt nervös, versucht Takoda zu beruhigen. Sie ist chancenlos. Als der Hund das vierte Leckerli viel zu früh wegschnappt, bricht die Mauer, die der Patient um sich errichtet hat. Verärgerung, Wut, Gehässigkeit, Schelte und böse Worte, Verzweiflung und Trauer, das Toben über fehlende Disziplin, all das bleibt aus, stattdessen fängt er an zu lachen. "Wissen Sie", sagt er, "meine beiden zuhause haben auch ihren eigenen Kopf".
Dann beginnt er zu erzählen, davon, wie der jüngere seiner beiden Hunde den halben Hausschrank zerlegte, um an die Leckerli zu kommen, die dort gelagert waren, davon, wie er den Schrank wieder aufbaute, bevor seine Frau nach Hause kam, damit diese nichts merkte. Und davon, wie er bei verschiedenen Festessen seinen beiden "Jungs" heimlich kleine Stücke zusteckte und seine Frau ihn ausschimpfte, als sie das sah.
Trotz der vielen Falten, die seine Haut zerknittern wie dörres Laub, wird seine Stimme wieder zu der eines Jungen, den Alte als lausbübisch abtun, weil sie in all ihrer Ernsthaftigkeit vergessen haben, wie schön sich Spaß anfühlt.
"Jetzt zeig ich euch mal einen Trick, den ich auch mit meinen immer gemacht habe", sagt der Mann und nimmt ein Leckerle zwischen seine Lippen. "Er muss es von da aus nehmen", nuschelt er zwischen zusammengebissenen Zähnen. Takoda jault auf, umrundet den Rollstuhl links, umrundet den Rollstuhl rechts, legt sich hin, steht wieder auf, jault wieder.
Der Patient deutet auf das Leckerle in seinem Mund. "Hier", sagt er, "du musst es dir schon holen." Der Hund legt den Kopf schrägt, sieht Birgit Rauh an, die nickt. Dann geht alles ganz schnell. Sprung. Vorderbeine auf Rollstuhl. Zähne packen Leckerle. Beute sichern.
Nach der halben Stunde Therapiesitzung, bittet der Mann Birgit Rauh noch mit in sein Zimmer, er möchte ihr Hundebilder von seinen "Jungs" zeigen, die daheim auf ihn warten. Zurück im Büro sieht sie sich noch einmal seine Akte an. Bösartiger Tumor im Becken-Bereich. Latent-Palliativer Status. "In den nächsten Wochen werden wir mit ihm darüber sprechen, wie er den Tod annehmen kann, der näher kommt", sagt Birgit Rauh, "für heute war das noch zu früh. Es hat ihm so viel Spaß gemacht, auch weil er seine Hunde vermisst. Es wäre falsch gewesen, ihm das zu nehmen."
"Wir", das sind die Sozialpädagogin, aber auch Takoda. Beide bilden ein Team. Der eine beherrscht die Sprache der Menschen nicht, die andere lässt sich von den Instinkten ihres Partners leiten.
"Ich hätte das heute ganz anders gemacht, aber ich vertraue ihm da völlig", sagt Birgit Rauh. Der Patient sei ernst und verschlossen gewesen. Durch eine Recherche zur Vorbereitung wusste sie, dass er vor der Rente als Ausbilder im Schutzhunde-Dienst gearbeitet hatte. So ein Mann legt Wert auf Disziplin und Gehorsam, da müssen wir uns anstrengen, da darf nichts schief gehen, dachte sich Rauh und bereitete eine Therapiestunde mit vielen Übungen vor, zu Befehl- und Gehorsam. "Das ist ein Liebhaber und Hundenarr, der spielen will", dachte sich dagegen wohl Dakota und zerstörte die gesamte Vorbereitung, indem er alle Befehle ignorierte und umhersprang. Er behielt Recht.
Schon oft reagierte Takoda auf Patienten anders, als Birgit Rauh es erwartet hatte. Mal legte er sich flach auf das Krankenbett und ließ sich streicheln, andere Male blieb er auf Distanz. Wie Takoda reagiert, ist immer unterschiedlich. Mal wild, mal ruhig, mal laut, mal leise. Immer richtig für den Patienten, dem er bei Bedarf auch mal einen Kuss gibt.
Info: Birgit Rauh, Sozialpädagogin (FH), Tel. 09561/ 22-7314, birgit.rauh@klinikum-coburg.de