Denn seit Ende des vergangenen Jahres hat sich der Trainingsalltag von Gina Lückenkemper radikal verändert. Ihr langjähriger Trainer Uli Kunst hatte seinen Ruhestand für 2020 angekündigt, nahezu zeitgleich ergibt sich aber die Gelegenheit, in die elitäre und internationale Trainingsgruppe des US-Amerikaners Lance Brauman in Florida aufgenommen zu werden. Eine Offerte wie ein Ritterschlag. Unter anderem vertrauen Doppel-Sprint-Weltmeister Noah Lyles (USA) und 400-Meter-Olympiasiegerin Shaunae Miller-Uibo (Bahamas) auf die Künste des Medaillenmachers. "Auch mein bisheriger Trainer hatte diese riesige Chance gesehen und gesagt, dass ich verrückt sei, wenn ich es nicht ausprobieren würde. Ich bin wahnsinnig froh mit der Entscheidung, fühle mich sehr wohl in der Gruppe und sehe die Fortschritte", sagt Lückenkemper.
Hartes Training, große Ziele
Als sie im November 2019 zu ihrer ersten Trainingsphase nach Clermont in Florida fliegt, will sie bewusst "raus aus der Komfortzone". Bei Brauman ist sie goldrichtig. Erst dort habe sie gelernt, über ihre bisherigen Grenzen hinauszugehen und die Intensität so zu steigern, dass regelmäßig die Tränen fließen. "Laktat-Schmerzen in Beinen und Po sind irgendwann kaum auszuhalten, man kann wenig dagegen machen. Und es dauert, bis es nachlässt. Es kostet sehr viel Überwindung, so in den Schmerz hineinzulaufen. Früher hätte ich das nicht gekonnt."
Coronabedingt muss im Frühjahr ein weiterer, mehrwöchiger US-Aufenthalt aber gestrichen werden. Fuchs-Park-Stadion statt Sonne in Florida. Das Coaching erfolgt mit Trainingsplänen und Videosequenzen aus der Ferne. Für die Umsetzung der Inhalte ist Lückenkemper momentan also alleine zuständig, weiß aber eine große Unterstützung an ihrer Seite: Freund Stefan. "Er ist ganz oft mit dabei, filmt die Einheiten, feuert an, muntert mich auf oder hilft mir auf, wenn ich nicht mehr kann. Die Trainingseinheiten sind richtig fies und gemein, mit ihm stehe ich das überhaupt erst durch."
All der Aufwand dient großen Zielen: Endlich in einem Einzel-Finale bei Olympia oder WM zu stehen. Das gelang ihr noch nicht. "Wenn man in einem Finale steht, dann ist alles möglich", sagt sie. Dafür schindet sich Lückenkemper weiter, arbeitet an Nuancen, um die eine oder andere Hundertstelsekunde noch herauszukitzeln. In diesen Leistungshöhen wird die Luft eben schnell dünn. Aber was verbessern? Oft werde geschrieben, dass ihr Start schlecht sei, sagt sie. Und ärgert sich ein wenig darüber. "Es ist nicht der Start, der schlecht ist, sondern meine Reaktionszeit. Ich reagiere auf visuelle Reize besser als auf akustische. Es ist extrem schwierig, das zu verbessern. Aber wir arbeiten dran." Und sie hat ja noch Zeit: In einem Jahr, fast auf den Tag genau, findet in Tokio das olympische Frauen-Finale über 100 Meter statt. Es warten noch viele schmerzvolle Stunden. Und sehr viele Tränen.
Kurzinterview mit Gina Lückenkemper: "Manchmal rutscht mir ein ,a weng' raus"
Aus Nordrhein-Westfalen ins Frankenland: Vor mehr als zwei Jahren ist Gina Lückenkemper zu ihrem Freund Stefan gezogen und hat ihren Lebensmittelpunkt nach Franken verlegt. Lückenkemper ist eine Frohnatur, ihre Auftritte vor TV-Kameras sind von einer bemerkenswerten Lässigkeit geprägt. Passt das überhaupt zum etwas schnoddrigen Gemüt der Franken? Drei Fragen an Gina Lückenkemper.
Fühlen Sie sich schon als halbe Fränkin?
Gina Lückenkemper: Um ehrlich zu sein: Noch nicht so richtig, aber es kommt langsam. Manchmal rutscht mir schon ein "a weng" raus. Ich mag Bamberg sehr. Da wir zentral wohnen, bin ich relativ viel in der Stadt unterwegs.
Wo halten Sie sich in Bamberg gern auf?
Sehr gern bin ich am Alten Rathaus auf der Oberen Brücke, der Blick auf Klein-Venedig ist herrlich. Meinen persönlichen Lieblings-Spot in der Stadt habe ich so aber noch nicht gefunden, vielleicht auch deshalb, weil es zu viele schöne Flecken gibt.
In einem Video auf Instagram sind Sie bei einem Korbleger zu sehen. Ist an Ihnen eine Basketballerin verloren gegangen?
Die Begeisterung für Basketball ist erst durch meinen Freund Stefan aufgeflammt, der ein großer Fan von Brose Bamberg ist und mich zu einigen Spielen mitgenommen hat. Dadurch habe ich den Sport mehr und mehr lieben gelernt, obwohl ich mich zuvor nie groß damit auseinandergesetzt hatte. Rund um Soest war der Sport nicht sehr präsent, das ändert sich langsam. Basketball ist großartig, durch die herunterlaufende Wurfuhr ist ständig Action. Daran könnten sich andere Sportarten gern mal orientieren.